Hybride Atome in superflüssigem Helium
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik astronews.com
7. April 2022
Ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am
CERN hat bei hybriden Atomen aus Antimaterie und Materie ein überraschendes
Verhalten entdeckt, wenn diese in supraflüssiges Helium eingetaucht werden. Das
Ergebnis könnte einen neuen Weg eröffnen, um mit Antimaterie die Eigenschaften
von kondensierter Materie zu untersuchen – oder um Antimaterie in kosmischer
Strahlung aufzuspüren.

Antiprotonisches Heliumatom im
superflüssigen Zustand, das in flüssigem Helium
schwebt. Das Antiproton ist durch die
Elektronenhülle des Heliumatoms geschützt und
vermeidet so den sofortigen Zerfall.
Bild: Christoph Hohmann [Großansicht] |
Wenn sie einen Blick in die Schattenwelt der Antimaterie werfen will, muss
die Forschung auf ausgeklügelte technische Tricks zurückgreifen. Sie sollen
verhindern, dass die Antimaterieproben mit der uns umgebenden normalen Materie
in Kontakt kommen. Diese Isolierung ist von entscheidender Bedeutung, da sich
Antimaterie und Materie bei einem Kontakt miteinander sofort gegenseitig
zerstören. Trotzdem schafften es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in
einem internationalen Team unter Federführung des Garchinger
Max-Planck-Instituts für Quantenoptik (MPQ), Materie und Antimaterie zu
exotischen, hybriden Atomen aus Helium zu kombinieren, die für kurze Zeit stabil
bleiben. Nun hat das Team aus Italien, Ungarn und Deutschland überdies eine
Möglichkeit entdeckt, die so gebundenen Antiteilchen sehr genau spektroskopisch
zu untersuchen.
Bei ihren Experimenten am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf
tauchten sie die bizarren atomaren Gebilde in flüssiges Helium und kühlten
dieses bis auf Temperaturen nahe beim absoluten Nullpunkt ab – wo das Helium in
einen sogenannten superfluiden Zustand übergeht. Die Ergebnisse des Experiments
waren für die Forschenden besonders überraschend, weil die hybriden
Antimaterie-Materie-Atome trotz ihrer dichten, flüssigen Umgebung sehr
empfindlich und genau auf das Laserlicht reagiert haben. "Spannend sind
Experimente an Antimaterie vor allem im Hinblick auf fundamentale
Gesetzmäßigkeiten der Physik", sagt Prof. Masaki Hori, der Leiter des Teams.
So verlangt das Standardmodell der Teilchenphysik – die Grundlage des
heutigen Verständnisses der Wissenschaft vom Aufbau des Universums und den darin
wirkenden Kräften -, dass sich Teilchen und ihre Antiteilchen lediglich im
Vorzeichen ihrer elektrischen Ladung unterscheiden. So trägt ein Antiproton –
das Gegenstück zum positiv geladenen Proton, einem Baustein von Atomkernen, –
eine negative Ladung. Nach dem Standardmodell der Physik sind die anderen
Eigenschaften identisch. "In unseren bisherigen Experimenten haben wir keinen
Hinweis darauf gefunden, dass sich die Massen von Protonen und Antiprotonen auch
nur im Geringsten unterscheiden", berichtet Hori. "Wenn ein solcher Unterschied,
wie gering er auch sein mag, nachgewiesen werden könnte, würde das die
Grundlagen unseres derzeitigen Weltbildes erschüttern."
Doch vielleicht sind die verfügbaren experimentellen Verfahren nur nicht
empfindlich genug, um möglicherweise vorhandene feine Unterschiede aufzuspüren?
"Wir können das nicht ausschließen, bevor wir es nicht tatsächlich gemessen
haben", meint Hori. Daher feilen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
weltweit an Techniken, um die Merkmale von Antiteilchen immer noch ein bisschen
genauer zu untersuchen. "Dazu lässt man Atome oder Moleküle für spektroskopische
Messungen beispielsweise in Vakuumkammern magnetisch schweben oder sperrt sie in
Ionenfallen ein", erklärt Hori. "Das hybride Heliumatom haben wir im Team bisher
dazu verwendet, die Massen von Antiprotonen und Elektronen präzise miteinander
zu vergleichen." Mit den neuesten Erkenntnissen seines Teams hat der Garchinger
Physiker nun den Weg zu einer weiteren, sehr sensiblen Messmethode geebnet: die
hochaufgelöste optische Spektroskopie an Antiprotonen-Helium-Atomen in einer
supraflüssigen Umgebung.
Um die exotischen Heliumatome mit darin enthaltenen Antiprotonen zu erzeugen,
nutzten die Forscher den Antiprotonen-Entschleuniger am CERN – eine weltweit
einzigartige Anlage, die es ermöglicht, die Antimaterieteilchen, die bei
Zusammenstößen von energiereichen Protonen entstehen, abzubremsen. Die langsame
Geschwindigkeit der Antiprotonen macht sie ideal nutzbar für Experimente wie die
des Teams um Hori.
Die Forscherinnen und Forscher mischten die langsamen Antiprotonen mit
flüssigem Helium, das sie auf Temperaturen von wenigen Grad über dem absoluten
Nullpunkt bei minus 273 Grad Celsius abkühlten. Dabei fingen Atome des Heliums
einen kleinen Teil der Antiprotonen ein. Jedes eingefangene Antiproton ersetzte
eines der beiden Elektronen, die normalerweise einen Helium-Atomkern umgeben –
und formten so ein Gebilde, das lange genug stabil blieb, um es spektroskopisch
zu untersuchen.
"Bisher dachte man, dass sich Antimaterie-Atome, die in Flüssigkeiten
eingebettet sind, nicht durch hochauflösende Spektroskopie mit Laserstrahlen
untersuchen lassen", berichtet Hori. Denn die im Vergleich etwa zu einem Gas
intensiven Wechselwirkungen zwischen den dicht gepackten Atomen oder Molekülen
der Flüssigkeit führen zu einer starken Verbreiterung der Spektrallinien. Diese
Linien sind Abbilder von Resonanzen, bei denen Energie aus dem Laserstrahl zur
Anregung bestimmter atomarer Zustände aufgenommen wird. Sie sind damit eine Art
Fingerabdruck jedes atomaren Teilchens.
Ihre genaue Lage auf der Frequenzskala sowie ihre Form verraten den
ForscherInnen aufschlussreiche Details über die Eigenschaften der untersuchten
Atome – und die Kräfte, die auf die Antiteilchen wirken. Doch durch die
Verbreiterung der Linien werden diese Informationen überdeckt, weil quasi
verschmiert. Hori und seinem Team gelang es nun erstmals, das "Verschmieren" der
Spektrallinien in einer Flüssigkeit zu unterbinden.
In einer Reihe von zahlreichen Experimenten nahmen die Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler die antiprotonischen Helium-Atome bei unterschiedlichen
Temperaturen unter die spektroskopische Lupe. Dazu bestrahlten sie die
Helium-Flüssigkeit mit dem Licht eines Titan-Saphir-Lasers, das zwei markante
Resonanzen der Antiprotonen-Atome bei zwei verschiedenen Frequenzen anregte. Die
überraschende Entdeckung: "Sank die Temperatur unter die kritische Temperatur
von 2,2 Kelvin – also 2 Grad Celsius über dem absoluten Nullpunkt –, bei der das
Helium in einen superfluiden Zustand übergeht, verwandelte sich schlagartig die
Gestalt der Spektrallinien", berichtet Anna Sótér, die erste Doktorandin im Team
des MPQ und inzwischen Assistenzprofessorin an der ETH Zürich. "Aus den bei
höherer Temperatur sehr breiten und unregelmäßig geformten wurden schmale und
gleichförmige Linien."
Die superfluide Phase ist ein besonderer flüssiger Zustand, der unter anderem
durch das Fehlen einer inneren Reibung gekennzeichnet ist. Das
quantenphysikalische Phänomen ist typisch für Helium bei extrem tiefen
Temperaturen. "Wie die markante Veränderung der Spektrallinien des Antiprotons
in einer solchen Umgebung zustande kommt und was dabei physikalisch geschieht,
wissen wir bislang nicht", sagt der MPQ-Physiker. "Wir waren davon selbst
überrascht."
Doch die Möglichkeiten, die der Effekt bietet, sind weitreichend. Denn die
Verschmälerung der Resonanzlinien ist so drastisch, dass sich bei einer Anregung
mit Licht die sogenannte Hyperfeinstruktur auflösen lässt, berichtet das Team.
Die Hyperfeinstruktur ist eine Folge der gegenseitigen Beeinflussung des
Elektrons und des Antiprotons in dem Atom. Das deutet darauf hin, dass sich in
supraflüssigem Helium andere hybride Heliumatome mit verschiedenen Arten von
Antimaterie oder mit exotischen Teilchen erzeugen lassen könnten, um ihre
Reaktion auf Laserlicht im Detail zu untersuchen und ihre Masse zu bestimmen.
Ein Beispiel dafür sind pionische Heliumatome, die vor Kurzem im
590-Megaelektronenvolt-Zyklotron des Paul-Scherrer-Instituts in Villingen in der
Schweiz mittels Laserspektroskopie untersucht wurden.
Zudem könnten die scharfen Spektrallinien hilfreich sein beim Nachweis von
Antiprotonen und Antideuteronen in der kosmischen Strahlung. Ihnen sind
Forscherinnen und Forscher bereits seit Jahren auf der Spur, etwa mit
Experimenten an Bord der Internationalen Raumstation ISS. Demnächst werden
Wissenschaftler auch einen Testballon über der Antarktis starten – mit einem
Instrument an Bord, das Antiprotonen und Antideuteronen aufspüren kann, die
möglicherweise in sehr großen Höhen in der Atmosphäre existieren.
"Detektoren mit superfluidem Helium könnten solche Versuche unterstützen und
wären geeignet, Antiteilchen aus dem All einzufangen und zu analysieren",
spekuliert Hori. Das würde womöglich zur Lösung eines anderen großen Rätsels
beitragen: der Frage nach dem Wesen der Dunklen Materie – einer ominösen und
bislang unbekannten Materieform, die nicht sichtbar ist, aber offenbar einen
Großteil der Masse im Universum ausmacht. In einigen Theorien wird angenommen,
dass bei der Wechselwirkung Dunkler Materie im Halo unserer Galaxie Antiteilchen
entstehen, die dann zur Erde gelangen können. Ausgerechnet Antimaterie könnte so
Licht in dieses Dunkel bringen.
Über ihre Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Nature erschienen
ist.
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