Auf dem Weg zu noch genaueren Atomuhren
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des DESY astronews.com
29. September 2023
Einem Forschungsteam ist ein entscheidender Schritt zu einer
neuen Generation von Atomuhren gelungen: Am European XFEL haben die
Forscherinnen und Forscher auf Basis des Elements Scandium einen wesentlich
exakteren Taktgeber erzeugt, der eine Genauigkeit von einer Sekunde in 300
Milliarden Jahren ermöglicht – das ist rund tausendmal präziser als die
Standard-Atomuhr auf Cäsium-Basis.
Mit den Röntgenpulsen des European XFEL
ließen sich im Kern von Scandium-Atomen jene Prozesse anregen,
die ein Uhrensignal mit einer noch nie dagewesenen Präzision
von einer Sekunde in 300 Milliarden Jahren ermöglichen
(künstlerische Darstellung). Bild:
T. Wüstefeld / R. Röhlsberger, European XFEL /
Helmholtz-Institut Jena [Großansicht] |
Atomuhren sind derzeit die genauesten Zeitmesser. Als Taktgeber nutzen sie
bislang Elektronen in der Atomhülle chemischer Elemente, zum Beispiel Cäsium.
Diese lassen sich mit Mikrowellen einer bekannten Frequenz auf ein höheres
Energieniveau anheben. Dabei absorbieren sie die Mikrowellenstrahlung. Eine
Atomuhr bestrahlt Cäsiumatome mit Mikrowellen und regelt die Frequenz der
Strahlung so, dass die Mikrowellen möglichst stark absorbiert werden, Fachleute
nennen dies eine Resonanz. Der Quarzoszillator, der die Mikrowellen erzeugt,
lässt sich mithilfe der Resonanz so stabil halten, dass Cäsium-Uhren in 300
Millionen Jahren auf eine Sekunde genau gehen.
Ausschlaggebend für die Genauigkeit einer Atomuhr ist die Breite der
verwendeten Resonanz. Aktuelle Cäsium-Atomuhren verwenden bereits eine sehr
schmale Resonanz, eine höhere Genauigkeit erreichen Strontium-Atomuhren mit nur
einer Sekunde auf 15 Milliarden Jahren. Eine weitere Verbesserung lässt sich mit
der Anregung von Elektronen praktisch nicht mehr erzielen. Bereits seit einigen
Jahren arbeiten Teams weltweit daher an einer Atomkernuhr ("nuclear clock"), die
Übergänge im Atomkern statt in der Atomhülle als Taktgeber nutzt. Diese
Kernresonanzen sind deutlich schärfer als die Resonanzen von Elektronen in der
Atomhülle, aber auch deutlich schwieriger anzuregen.
Am European XFEL konnte das Team nun einen Übergang im Kern des
Elements Scandium, das als hochreine Metallfolie oder Scandiumdioxid leicht
erhältlich ist, als vielversprechenden Kandidaten anregen. Diese Resonanz
erfordert Röntgenstrahlung mit einer Energie von 12,4 Kilo-Elektronenvolt (das
ist etwa 10 000 Mal so viel wie die Energie von sichtbarem Licht) und hat eine
Breite von nur 1,4 femto-Elektronenvolt (feV). Das sind 1,4 billiardstel
Elektronenvolt und damit lediglich etwa ein zehntel Trilliardstel der
Anregungsenergie (10-19). Damit ist eine Genauigkeit von 1:10 000 000
000 000 000 000 möglich. "Das entspricht einer Sekunde in 300 Milliarden
Jahren", sagt DESY-Forscher Ralf Röhlsberger, der am Helmholtz-Institut Jena
arbeitet, einer gemeinsamen Einrichtung des GSI Helmholtzzentrums für
Schwerionenforschung, des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR) und von
DESY.
Atomuhren haben zahlreiche Anwendungen wie beispielsweise die exakte Ortung
mithilfe der Satellitennavigation, die von einer Verbesserung der Genauigkeit
profitieren. "Das wissenschaftliche Potenzial der Scandium-Resonanz wurde
bereits vor mehr als 30 Jahren erkannt", berichtet der Projektleiter des
Experiments, Yuri Shvyd'ko vom Argonne National Laboratory in den USA.
"Bislang war jedoch keine Röntgenquelle verfügbar, die innerhalb der 1,4 feV
schmalen Linie von Scandium hell genug leuchtet", sagt Anders Madsen, leitender
Wissenschaftler an der MID-Experimentierstation am European XFEL, wo das
Experiment stattgefunden hat. "Das änderte sich erst mit Röntgenlasern wie dem
European XFEL."
In dem bahnbrechenden Experiment bestrahlte das Team eine 0,025 Millimeter
dünne Scandiumfolie mit Röntgenlaserlicht und konnte ein charakteristisches
Nachleuchten detektieren, welches von den angeregten Atomkernen ausgesendet
wurde und ein eindeutiger Nachweis der extrem schmalen Resonanzlinie des
Scandium ist. Wichtig für den Bau von Atomuhren ist auch die exakte Kenntnis der
Resonanzenergie, also der Energie der Röntgenlaserstrahlung, bei der die
Resonanz eintritt. Durch eine ausgeklügelte extreme Rauschunterdrückung und
hochauflösende Kristalloptiken ließ sich in den Versuchen der Wert der
Scandium-Resonanzenergie mit 12,38959 keV bis auf die fünfte Stelle hinter dem
Komma bestimmen, das ist 250-fach genauer als bisher. "Die genaue Bestimmung der
Übergangsenergie ist ein bedeutender Fortschritt", betont der Leiter der
Datenanalyse, Jörg Evers vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg.
"Die exakte Kenntnis dieser Energie ist von enormer Bedeutung für die
Realisierung einer Atomuhr auf der Basis von Scandium."
Die Forscherinnen und Forscher erkunden nun weitere Schritte zur
Verwirklichung einer solchen Atomkernuhr. "Der Durchbruch bei der
Resonanzanregung von Scandium und der präzisen Messung ihrer Energie eröffnet
nicht nur neue Möglichkeiten für Atomkernuhren, sondern auch in der
Ultrapräzisionsspektroskopie und für die Präzisionsmessung von fundamentalen
physikalischen Effekten", erläutert Shvyd'ko. Dazu ergänzt Olga Kocharovskaya
von der Texas A&M University in den USA, Initiatorin und Leiterin des
Projekts, welches von der National Science Foundation der USA gefördert
wurde: "Eine solch hohe Genauigkeit könnte beispielsweise ermöglichen, die
gravitative Zeitdilatation auf Entfernungen im Submillimeterbereich zu
untersuchen. Dies würde Studien über relativistische Effekte auf Längenskalen
ermöglichen, die bisher unzugänglich waren."
An der Arbeit waren Forscherinnen und Forscher vom Argonne National
Laboratory in den USA, dem Helmholtz-Institut Jena, der
Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Texas A&M University in den
USA, dem Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg, der polnischen
Synchrotronstrahlungsquelle SOLARIS in Krakau, vom European XFEL und
von DESY beteiligt.
Über die Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Nature erschienen ist.
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