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Hochpräzise Atomuhren spielen bei der Erforschung der fundamentalen Eigenschaften unseres Universums eine immer wichtigere Rolle. Noch genauer wären sogenannte Kernuhren, für deren Entwicklung allerdings bislang wichtige Grundlagen fehlten. Nun ist ein Forschungsteam einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Die erste Kernuhr könnte noch in diesem Jahrzehnt in Betrieb gehen.
Atomuhren messen Zeit so genau, dass sie in 30 Milliarden Jahren weniger als eine Sekunde vor- oder nachgehen. Mit sogenannten Kernuhren könnte man die Zeit noch zuverlässiger messen. Darüber hinaus könnte man grundlegende Phänomene der Fundamentalphysik mit ihnen untersuchen. "Da geht es buchstäblich um das, was die Welt im Innersten zusammenhält", sagt Professor Peter Thirolf, Physiker an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU), der bereits seit vielen Jahren an Kernuhren forscht. Denn im Gegensatz zu herkömmlichen Atomuhren "spüre" diese Art von Uhr auch Kräfte, die im Atomkern wirken. "Das eröffnet eine ganze Reihe von Forschungsfeldern, die man mit Atomuhren nie untersuchen könnte", ergänzt Thirolfs Kollege Dr. Sandro Kraemer, der das Projekt bereits im Rahmen seiner Promotion an der Katholischen Universität Leuven in Belgien maßgeblich vorangetrieben hat. Thirolf und Kraemer gehören zu denjenigen, die ganz vorne mit dabei sind, im Wettlauf um die Kernzeit. Die beiden Wissenschaftler arbeiten am Lehrstuhl für experimentelle Physik in Garching. Auf dem Weg zur ersten Kernuhr sind sie als Teil eines internationalen Teams nun einen bedeutenden Schritt weitergekommen: Dank eines neuen experimentellen Ansatzes konnte die Anregungsenergie von Thorium-229 sehr genau charakterisiert werden. Dieser Atomkern soll Taktgeber zukünftiger Kernuhren werden. Die genaue Kenntnis darüber, welche Frequenz es für seine Anregung braucht, ist ausschlaggebend dafür, dass das funktionieren kann. Für eine Uhr braucht man irgendetwas, das periodisch schwingt und etwas, das diese Schwingungen zählt. Bei einer Standuhr ist es ein mechanisches Pendel, dessen "Ticks" und "Tacks" von einem Uhrwerk gezählt werden. Bei Atomuhren gibt die Atomhülle den Takt vor. Die Elektronen werden angeregt und wechseln zwischen hohem und niedrigem Energieniveau hin und her. Gezählt wird die Frequenz von Lichtteilchen, die das Atom aussendet, wenn die angeregten Elektronen wieder zurück in den Grundzustand fallen.
Bei Kernuhren ist das Grundprinzip sehr ähnlich. Allerdings dringt man hier, im wahrsten Sinne des Wortes, zum Kern des Atoms vor. Denn auch der kennt verschiedene energetische Zustände. Würde es gelingen, diese mit einem Laser gezielt anzuregen und die Strahlung zu messen, die der Kern beim Zurückfallen in den Grundzustand aussendet, hätte man eine Kernuhr. Das Problem: Von allen bekannten Atomkernen ist der Wissenschaft nur ein einziger bekannt, mit dem so etwas machbar wäre: Thorium-229. Und selbst das war lange Zeit reine Theorie. Was Thorium-229 so besonders macht, ist die Tatsache, dass sich sein Kern mit einer relativ niedrigen Lichtfrequenz in den angeregten Zustand versetzen lässt, einer Frequenz, die man mit UV-Lasern noch gerade so hinbekommen könnte. 40 Jahre lang steckte die Forschung fest, weil man zwar vermutete, dass der Atomkern mit den passenden Eigenschaften existiert, diese Vermutung aber nicht experimentell bestätigen konnte. Im Jahr 2016 gelang Thirolfs Arbeitsgruppe an der LMU dann der Durchbruch: Sie konnte den angeregten Zustand des Kerns von Thorium-229 direkt nachweisen. Damit war der Startschuss für das Rennen um die Kernuhr gefallen. Inzwischen sind weltweit viele Gruppen an dem Thema interessiert. Um eine Uhr zum Laufen zu bringen, müssen Taktgeber und Uhrwerk perfekt aufeinander abgestimmt sein. Im Falle der Kernuhr bedeutet das, dass man genau wissen muss, mit welcher Frequenz der Atomkern von Thorium-229 "tickt". Nur dann kann man Laser entwickeln, die genau diese Frequenz anregen. "Man kann sich das vorstellen wie bei einer Stimmgabel", erklärt Kraemer. "Der Laser ist das Musikinstrument, mit dem man versucht, die Frequenz der Stimmgabel Thoriumkern zu treffen." Würde man alle möglichen Frequenzen mit verschiedenen Lasern ausprobieren, wäre man ewig beschäftigt. Ganz abgesehen davon, dass Laser im entsprechenden UV-Lichtspektrum erst noch aufwändig entwickelt werden müssen. Um den Bereich, in dem die Schwingungsfrequenz von Thorium-229 liegt, näher einzugrenzen, nutzten die Forscher deshalb einen anderen Weg. "Die Natur ist manchmal gnädig und bietet uns verschiedene Möglichkeiten an", sagt Thirolf. Der angeregte Zustand des Thoriumkerns lässt sich nämlich nicht nur durch Anregung mit einem Laser herstellen. Er entsteht auch, wenn radioaktive Kerne zu Thorium-229 zerfallen. "Wir fangen also sozusagen bei den Großeltern und Urgroßeltern von Thorium an." Diese Zerfallsvorfahren heißen Francium-229 und Radium-229. Beide findet man nicht einfach in der Natur. Man muss sie künstlich herstellen. Und das ist derzeit nur an sehr wenigen Orten auf der ganzen Welt überhaupt möglich. Einer davon ist das ISOLDE-Labor an der Europäischen Organisation für Kernphysik (CERN) in Genf. Es ermöglichte den Forschern den alchimistischen Traum, ein Element in ein anderes zu verwandeln. Dazu werden Urankerne mit extrem stark beschleunigten Protonen regelrecht zerschossen, wodurch verschiedene neue Kerne entstehen – unter anderem Francium und Radium. Diese zerfallen in sehr kurzer Zeit zum radioaktiven Mutterkern von Thorium-229: Actinium-229. Kraemer, Thirolf und ihre internationalen Kollegen betteten dieses aufwendig hergestellte Actinium in spezielle Kristalle ein. Dort zerfällt das Actinium zu Thorium im angeregten Zustand. Wenn das Thorium in den Grundzustand zurückspringt, sendet es die Lichtteilchen aus, deren Frequenz für die Entwicklung der Kernuhr so ausschlaggebend ist. Sie nachzuweisen, ist aber gar nicht so trivial. "Wenn die Kerne nicht genau an den richtigen Stellen im Kristall sitzen, haben wir keine Chance", meint Kraemer. "Die Elektronen in der Umgebung würden dann die Energie absorbieren und es gelangt nichts nach draußen, was wir messen können." Bisherige Versuche, bei denen Uran statt Actinium ins Kristallgitter eingebracht wurde, sind an diesem Problem gescheitert. "Beim Zerfall von Uran-233 zu Thorium-229 entsteht ein Rückstoß, der alles im Kristall durcheinanderbringt", erklärt Thirolf. Der Zerfall von Actinium zu Thorium richtet hingegen sehr viel weniger Schaden an, weswegen die Forscher für die neue Studie diesen aufwändigen Weg in Zusammenarbeit mit CERN wählten. Der Aufwand hat sich gelohnt: Mit ihrer neuen Methode konnte das Team die Energie des Zustandswechsels sehr genau bestimmen. Sie zeigten zudem, dass eine Kernuhr mit Thorium, das in einen Kristall eingebettet wird, realisierbar ist. Solche festkörperbasierten Uhren hätten gegenüber anderen Ansätzen den Vorteil, dass sie deutlich schneller zu Messergebnissen führen würden, weil sie mit einer größeren Anzahl von Atomkernen arbeiten. "Wir kennen jetzt die ungefähre Wellenlänge, die wir brauchen", sagt Thirolf. Basierend auf den neuen Erkenntnissen soll die exakte Übergangsenergie nun immer weiter eingegrenzt werden. Der nächste Schritt sieht vor, mit einem Laser eine Anregung zu schaffen. Im Anschluss kann man die Frequenz mit präziseren Lasern immer weiter eingrenzen. Damit das nicht so lange dauert, sucht man die Nadel im Heuhaufen nicht mit einer Pinzette, sondern mit einem Rechen. Dieser Rechen heißt "Frequenzkamm" und wurde von Thirolfs LMU-Kollegen Professor Theodor Hänsch entwickelt, der dafür 2005 den Nobelpreis erhielt. Man kann damit hunderttausende Wellenlängen gleichzeitig abtasten, bis man die richtige gefunden hat. Noch immer liegen einige Herausforderungen auf dem Weg zur Kernuhr. Das Thorium-Isomer muss noch besser verstanden, Laser entwickelt, Theorien ausgetüftelt werden. "Aber es lohnt sich, dranzubleiben", findet Thirolf. "Das Projekt eröffnet langfristig so vielfältige neue Anwendungsmöglichkeiten, dass es sich lohnt großen experimentellen Aufwand zu betreiben", fügt Kraemer hinzu. Zu diesen Möglichkeiten zählen neben der Forschung an der Fundamentalphysik auch praktische Anwendungen. Mit einer Kernuhr könnte man kleinste Veränderungen im Gravitationsfeld der Erde erkennen, wie sie bei tektonischen Plattenverschiebungen oder bevorstehenden Vulkanausbrüchen auftreten. Mit den neuen Erfolgen ist das Ziel in greifbare Nähe gerückt. Bereits in weniger als zehn Jahren könnte es erste Prototypen geben. "Vielleicht schaffen wir es noch bis 2030, rechtzeitig zur Neudefinition der Zeit", hoffen die beiden Physiker. Bis dahin wird nämlich neu definiert, was eine Sekunde ist. Dabei kommen modernste Atomuhren zum Einsatz – und vielleicht auch bereits die ersten Kernuhren. Über ihre Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der Zeitschrift Nature erschienen ist.
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