Sternbeben und neue Details über Milliarden Sterne
Redaktion
/ Pressemitteilung der ESA astronews.com
13. Juni 2022
Mit der sogenannten Datenfreigabe 3 hat die europäische
Weltraumagentur ESA heute weitere Daten ihrer Astrometriemission Gaia
veröffentlicht. Erstmals werden Forschenden damit auch die von Gaia
aufgenommenen Spektroskopie-Daten zur Verfügung gestellt. Außerdem wurden mit
Gaia zahlreiche Sternbeben registriert - auch bei Sternen, bei denen
man dies nicht erwartet hatte.
Künstlerische Darstellung von Gaia mit der
Milchstraße im Hintergrund. Deren Bild basiert
auf Gaia-Daten von über 1,8 Milliarden Sternen.
Bild: ESA / ATG medialab (Satellit), ESA /
Gaia / DPAC; CC BY-SA 3.0 IGO (Milchstraße, mit
Dank an A. Moitinho) [Großansicht] |
Gaia, gestartet im Dezember 2013, ist eine Mission der europäischen
Weltraumagentur ESA zur Erstellung der genauesten und vollständigsten
multidimensionalen Karte der Milchstraße. Denn nur mithilfe solcher Daten können
Astronominnen und Astronomen die Struktur und vergangene Entwicklung unserer
Heimatgalaxie über Milliarden von Jahren nachvollziehen sowie den Lebenszyklus
von Sternen und unseren Platz im Universum besser verstehen.
Nachdem es bereits mehrere Teilveröffentlichungen von Gaia-Daten gab, stehen
ab heute 12 Uhr die Daten der "Datenfreigabe 3" - kurz DR3, für Data Release
3 - von Gaia allen Forschenden zur Verfügung. DR3 enthält neue und
verbesserte Details für fast zwei Milliarden Sterne in unserer Galaxie, darunter
neue Informationen zu chemischen Zusammensetzungen, Sterntemperaturen, Farben,
Massen, Alter und Geschwindigkeiten, mit denen sich Sterne auf uns zu oder von
uns weg bewegen.
Ein Großteil dieser Informationen wird durch die erstmals veröffentlichten
Spektroskopie-Daten von Gaia bereitgestellt, für die das Sternlicht in
seine einzelnen Farben aufgespalten wird (wie bei einem Regenbogen). Die Daten
enthalten auch spezielle Untergruppen von Sternen, z. B. jene, deren Helligkeit
sich mit der Zeit ändert. Dieser Datensatz enthält auch den bisher größten
Katalog von Doppelsternen, Tausende von Objekten des Sonnensystems wie
Asteroiden und Monde von Planeten sowie Millionen von Galaxien und Quasaren
außerhalb der Milchstraße.
Zu den überraschendsten Entdeckungen in den neuen Daten gehört, dass Gaia
Sternbeben - winzige Bewegungen auf der Oberfläche eines Sterns - nachweisen
kann, die die Form der Sterne verändern. Das Observatorium wurde eigentlich
nicht dafür gebaut. Gaia hatte bereits zuvor radiale Schwingungen
gefunden, die Sterne regelmäßig anschwellen und schrumpfen lassen, während sie
ihre kugelförmige Gestalt beibehalten. Allerdings hat Gaia jetzt auch
andere Schwingungen entdeckt, die eher wie große Tsunamis wirken. Diese
nicht-radialen Schwingungen verändern lediglich die globale Form eines Sterns
und sind daher nicht so leicht zu erkennen.
Gaia hat bei Tausenden von Sternen starke nicht-radiale Sternbeben
entdeckt und außerdem derartige Schwingungen in Sternen aufgedeckt, bei denen
diese bisher nur selten zu sehen waren. Nach den derzeitigen Theorien sollten
diese Sterne keine Beben haben. "Sternbeben lehren uns eine Menge über die
Sterne, insbesondere über ihr Innenleben. Gaia ist eine Goldgrube für
die 'Asteroseismologie' massereicher Sterne", sagt Conny Aerts von der KU Leuven
in Belgien, die Mitglied des Gaia-Konsortiums ist.
Die Zusammensetzung von Sternen verrät der Astronomie etwas über ihren
Entstehungsort und ihre anschließende Reise durch unsere Milchstraße und damit
auch über die Geschichte unserer Heimatgalaxie. Mit den heute veröffentlichten
Daten enthüllt Gaia die größte chemische Karte der Galaxie, die mit
3D-Bewegungen von der Umgebung unserer Sonne bis hin zu kleineren Galaxien in
unserer Nähe gekoppelt ist. Praktisch alle Elemente die schwerer sind als
Wasserstoff und Helium und in der Astronomie als "Metalle" bezeichnet werden,
sind nicht bereits im Urknall entstanden, sondern im Inneren von Sternen. Wenn
Sterne sterben, werden diese Metalle in das Gas und den Staub zwischen den
Sternen, das sogenannte interstellare Medium, freigesetzt, aus dem dann neue
Sterne entstehen.
Durch das Entstehen und Sterben von Sternen entsteht eine immer
metallreichere Umgebung. Die chemische Zusammensetzung eines Sterns ist somit
eine Art DNA, die der Forschung wertvolle Informationen über seine Herkunft
liefert. Dank Gaia weiß man nun, dass einige Sterne in unserer Galaxie
aus primordialem - also ursprünglichen - Material bestehen, während andere wie
unsere Sonne aus einer Materie bestehen, die von früheren Generationen von
Sternen angereichert wurde. Die dem Zentrum und der Ebene unserer Galaxie näher
gelegenen Sterne sind reicher an Metallen als Sterne in größerer Entfernung.
Gaia hat außerdem anhand ihrer chemischen Zusammensetzung Sterne
identifizieren können, die ursprünglich aus anderen Galaxien als unserer
stammen.
"Unsere Galaxie ist ein wunderschöner Schmelztiegel von Sternen", sagt
Alejandra Recio-Blanco vom Observatoire de la Côte d'Azur in
Frankreich, die Mitglied von des Gaia-Konsortiums ist. "Diese Vielfalt ist
extrem wichtig, denn sie verrät uns die Geschichte der Entstehung unserer
Galaxie. Sie offenbart die Migrationsprozesse innerhalb unserer Galaxie und die
Akkretion aus externen Galaxien. Dies zeigt auch deutlich, dass unsere Sonne und
wir alle Teil eines sich ständig verändernden Systems sind, das durch die
Zusammenführung von Sternen und Gas unterschiedlicher Herkunft entstanden ist."
Mehrere heute veröffentlichte Studien spiegeln zudem die ganze Fülle
des Entdeckungspotenzials von Gaia wider: Ein neuer Katalog von
Doppelsternen gibt Aufschluss über die Masse und die Entwicklung von mehr als
800.000 Doppelsternsystemen, während eine neue Asteroidenstudie, die 156.000
Objekte umfasst, den Ursprung unseres Sonnensystems näher beleuchtet. Gaia
enthüllt auch Informationen über zehn Millionen veränderliche Sterne,
geheimnisvolle Makromoleküle zwischen den Sternen sowie Quasare und Galaxien
außerhalb unserer eigenen kosmischen Nachbarschaft.
"Anders als bei anderen Missionen, die auf bestimmte Objekte abzielen,
handelt es sich bei der Mission Gaia um eine Durchmusterungsmission.
Das bedeutet, dass Gaia bei der mehrfachen Durchmusterung des gesamten
Himmels mit Milliarden von Sternen zwangsläufig Entdeckungen machen wird, die
anderen, spezielleren Missionen entgehen würden. Das ist eine ihrer Stärken, und
wir sind gespannt darauf, dass die Astronomiegemeinschaft unsere neuen Daten
genau unter die Lupe nimmt, um noch mehr über unsere Galaxie und ihre Umgebung
zu erfahren, als wir uns vorstellen konnten", unterstreicht Timo Prusti,
Projektwissenschaftler für Gaia bei der ESA.
Die neuen Gaia-Daten können ab dem 13. Juni 2022, 12:00 MESZ, abgerufen
werden. In einer Sonderausgabe der Zeitschrift Astronomy & Astrophysics
wird zudem eine Reihe von wissenschaftlichen Artikeln erscheinen, in denen die
Daten und ihr Validierungsprozess beschrieben werden.
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