Ein neuer Blick auf die Zwerggalaxien der Milchstraße
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Leibniz-Instituts für Astrophysik Potsdam astronews.com
21. November 2023
Bislang hat man angenommen, dass die Zwerggalaxien der
Milchstraße lange Zeit um unsere Heimatgalaxie kreisen und von Dunkler Materie
dominiert sind. Die Auswertung von Daten der ESA-Mission Gaia zeichnet
nun aber ein überraschend anderes Bild: Danach sind die meisten Zwerggalaxien
erst vergleichsweise kurz Satelliten der Milchstraße. Und Dunkle Materie wird
auch nicht benötigt.
Bild aus einer Simulation der Umwandlung
einer gasreichen und rotationsdominierten Galaxie in eine
kugelförmige Zwerggalaxie. Hier ein Analogon zur Sculptor-Zwerggalaxie
der Milchstraße.
Bild: Jianling
Wang, François Hammer [Großansicht] |
Man geht seit langem davon aus, dass die Zwerggalaxien rund um die
Milchstraße uralte Satelliten sind, die unsere Galaxie seit fast zehn Milliarden
Jahren umkreisen. Dazu müssten sie riesige Mengen an Dunkler Materie enthalten,
um sie vor den enormen Gezeiteneffekten zu schützen, die durch die
Anziehungskraft unserer Galaxie verursacht werden. Es wurde angenommen, dass
Dunkle Materie die Ursache für die großen Geschwindigkeitsunterschiede zwischen
den Sternen in diesen Zwerggalaxien ist. Die neuesten Gaia-Daten haben nun ein
völlig anderes Bild der Eigenschaften von Zwerggalaxien ergeben.
Astronominnen und Astronomen des Pariser Observatoriums PSL, des Centre
national de la recherche scientifique (CNRS) und des Leibniz-Instituts für
Astrophysik Potsdam (AIP) waren in der Lage, die Geschichte der Milchstraße zu
datieren, und zwar dank der Beziehung zwischen der Bahnenergie eines Objekts und
seiner Eintrittszeit in den Halo, dem Zeitpunkt, zu dem sie erstmals vom
Gravitationsfeld der Milchstraße erfasst wurden: Objekte, die zu früheren Zeiten
in die Milchstraße eindrangen, als diese noch weniger massereich war, haben eine
niedrigere Energie als solche, die erst kürzlich eintrafen.
Die Bahnenergie der meisten Zwerggalaxien ist überraschenderweise deutlich
größer als jene der Sagittarius-Zwerggalaxie, die vor fünf bis sechs Milliarden
Jahren in den Halo eintrat. Dies deutet darauf hin, dass die meisten
Zwerggalaxien erst vor viel kürzerer Zeit, nämlich vor weniger als drei
Milliarden Jahren, in den Halo eingetreten sind. Eine solche jüngste Ankunft
bedeutet, dass die nahen Zwerggalaxien von außerhalb des Halos stammen, wo fast
alle Zwerggalaxien riesige Reservoirs an neutralem Gas enthalten. Diese
gasreichen Galaxien verloren ihr Gas, als sie mit dem heißen Gas des
galaktischen Halos zusammenstießen. Die Gewalt der Schocks und Turbulenzen in
diesem Prozess veränderte diese Zwerggalaxien völlig.
Während die zuvor gasreichen Zwerggalaxien durch die Rotation von Gas und
Sternen bestimmt wurden, wird ihre Schwerkraft bei der Umwandlung in gasfreie
Systeme durch die zufälligen Bewegungen der verbleibenden Sterne ausgeglichen.
Der Prozess, mit dem Zwerggalaxien ihr Gas verlieren, ist so heftig, dass er sie
aus dem Gleichgewicht bringt. Das bedeutet, dass die Geschwindigkeit, mit der
sich ihre Sterne bewegen, nicht mehr im Gleichgewicht mit ihrer
Gravitationsbeschleunigung ist. Die kombinierten Auswirkungen von Gasverlust und
Gravitationsschocks durch den Sturz in die Galaxie erklären die große Streuung
der beobachteten Geschwindigkeiten der Sterne innerhalb des Überrests der
Zwerggalaxie gut.
Die jetzt beschriebene Szenaria erklärt damit viele beobachtete Eigenschaften
dieser Objekte, insbesondere, warum sie Sterne in großer Entfernung von ihrem
Zentrum besitzen. Die Eigenschaften scheinen sich zudem auch ohne Dunkle Materie
erklären zu lassen – im Gegensatz zur bisherigen Auffassung, dass Zwerggalaxien
die am stärksten von Dunkler Materie dominierten Objekte sind.
Nun stellen sich viele Fragen, wie zum Beispiel: Wo sind die vielen von
Dunkler Materie dominierten Zwerggalaxien, die das kosmologische Standardmodell
um die Milchstraße erwartet? Wie können wir auf den Gehalt an Dunkler Materie in
einer Zwerggalaxie schließen, wenn kein Gleichgewicht angenommen werden kann?
Welche anderen Beobachtungen könnten zwischen den vorgeschlagenen Zwerggalaxien
außerhalb des Gleichgewichts und dem klassischen Bild mit von Dunkler Materie
dominierten Zwergen unterscheiden?
Über die Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Monthly Notices of the Royal Astronomical Society erscheinen wird.
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