Masse des Neutrinos noch genauer vermessen
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Physik astronews.com
16. Februar 2022
Das internationale KArlsruhe TRItium Neutrino Experiment,
kurz KATRIN, am Karlsruher Institut für Technologie hat die Neutrinomasse
erstmals auf unter ein Elektronenvolt eingegrenzt und damit eine in der
Neutrinophysik wichtige Schwelle unterschritten. Aus den neuen Daten lässt sich
eine Obergrenze von 0,8 eV für die Masse des Neutrinos ableiten.
Blick in das Innere des Hauptspektrometers
des KATRIN-Experiments zur Bestimmung der
Neutrinomasse am Campus Nord des KIT. Auf dem
Bild werden gerade neue Elektroden eingebaut.
Foto: Joachim Wolf / KIT [Großansicht] |
Blick in das Innere des Hauptspektrometers des KATRIN-Experiments zur
Bestimmung der Neutrinomasse (Foto: Joachim Wolf/KIT) Das 70 Meter lange
KATRIN-Experiment mit seinen Hauptkomponenten Tritiumquelle, Hauptspektrometer
und Detecktor (Bild: Leonard Köllenberger/KATRIN Collaboration) Das 70 Meter
lange KATRIN-Experiment mit seinen Hauptkomponenten Tritiumquelle,
Hauptspektrometer und Detecktor (Bild: Leonard Köllenberger/KATRIN Collaboration)
Neutrinos sind die wohl faszinierendsten Elementarteilchen in unserem
Universum. In der Kosmologie spielen sie eine wichtige Rolle bei der Bildung von
großräumigen Strukturen, und in der Welt der Teilchenphysik nehmen sie eine
Sonderstellung ein durch ihre winzige Masse, die auf neue physikalische Prozesse
jenseits unserer bisherigen Theorien hinweist. Ohne eine Messung der
Neutrinomasse wird unser Verständnis des Universums unvollständig bleiben.
Hier setzt das internationale KATRIN-Experiment am Karlsruher Institut für
Technologie, kurz KIT, mit Partnern aus sechs Ländern als weltweit sensitivste
Waage für Neutrinos an. Es benutzt den Beta-Zerfall von Tritium, einem
instabilen Wasserstoff-Isotop, um aus der Energieverteilung der bei diesem
Zerfall erzeugten Elektronen die Masse des Neutrinos zu bestimmen. Dazu ist ein
enormer technischer Aufwand notwendig: Das 70 Meter lange Experiment beherbergt
die weltweit intensivste Quelle von Tritium sowie ein riesiges Spektrometer, mit
dem sich die Energien der Zerfallselektronen mit bisher unerreichter Präzision
messen lassen. Die hohe Qualität der ersten Daten nach der Inbetriebnahme im
Jahr 2019 konnte in den letzten beiden Jahren kontinuierlich gesteigert werden.
"KATRIN als Experiment mit höchsten technologischen Anforderungen läuft nun
wie ein perfektes Uhrwerk", freut sich Guido Drexlin vom KIT, der Projektleiter
und einer der beiden Co-Sprecher des Experiments. Christian Weinheimer,
Universität Münster, der andere Co-Sprecher, ergänzt: "Dabei waren die Reduktion
der Störsignale und die Erhöhung der Signalrate entscheidend für das neue
Resultat".
Die Auswertung dieser Daten stellte das internationale Team um die beiden
Analyse-Koordinatoren Susanne Mertens, Max-Planck-Institut für Physik (MPP) und
Technische Universität München und Magnus Schlösser, KIT, vor große
Herausforderungen: Jeder Einfluss auf die Neutrinomasse, so klein er auch sein
mochte, musste detailliert untersucht werden. "Nur durch diese aufwändige und
akribische Arbeit konnten wir eine systematische Beeinflussung unseres Resultats
durch andere Effekte wirklich ausschließen. Wir sind ganz besonders stolz auf
unser Analyseteam, das sich dieser Herausforderung mit großem Engagement
erfolgreich gestellt hat", so Mertens und Schlösser.
Die experimentellen Daten des ersten Messjahres und die Modellierung auf
Basis einer verschwindend kleinen Neutrinomasse passen perfekt: Daraus lässt
sich eine neue Obergrenze für die Neutrinomasse von 0,8 Elektronenvolt (eV)
bestimmen. Erstmals stößt so ein direktes Neutrinomassenexperiment in den
kosmologisch und teilchenphysikalisch wichtigen Massenbereich unter einem
Elektronenvolt vor, in dem die fundamentale Massenskala von Neutrinos vermutet
wird. "Die Teilchenphysik-Gemeinschaft ist begeistert, dass die 1-eV-Barriere
von KATRIN durchbrochen wurde" kommentiert Neutrinoexperte John Wilkerson,
University of North Carolina, der Vorsitzende des KATRIN Executive Boards.
Susanne Mertens erläutert den Weg zum neuen Rekord: "Unser Team am MPP in
München hat für KATRIN eine neue Analysemethode entwickelt, die speziell auf die
Anforderungen dieser hochpräzisen Messung optimiert ist. Diese Strategie wurde
erfolgreich für die vergangenen und aktuellen Ergebnisse eingesetzt. Meine
Gruppe ist hochmotiviert: Wir werden uns auch den künftigen Herausforderungen
der KATRIN-Analyse mit neuen kreativen Ideen und akribischer Genauigkeit
stellen."
Die Co-Sprecher und Analyse-Koordinatoren von KATRIN beschreiben die
kommenden Ziele: "Die weiteren Messungen zur Neutrinomasse werden noch bis Ende
2024 andauern. Um das volle Potential dieses einzigartigen Experiments
auszuschöpfen, werden wir nicht nur die Statistik der Signalereignisse
kontinuierlich erhöhen; wir entwickeln und installieren fortwährend
Verbesserungen zur weiteren Absenkung der Störereignisrate".
Dabei spielt die Entwicklung des neuen Detektorsystems TRISTAN, mit dem sich
KATRIN ab 2025 auf die Suche nach "sterilen" Neutrinos im
Kiloelektronvolt-Massenbereich begeben soll, eine besondere Rolle. Solche
sterilen Neutrinos wären Kandidaten für die mysteriöse Dunkle Materie, die sich
schon in vielen astrophysikalischen und kosmologischen Beobachtungen
manifestiert hat, deren teilchenphysikalische Natur aber noch immer unbekannt
ist.
Die aktuellen Ergebnisse wurden in einem Fachartikel veröffentlicht, der in
Nature Physics erschienen ist.
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