Neutrinomasse besser eingegrenzt
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Karlsruher Instituts für Technologie astronews.com
30. September 2019
Neutrinos spielen durch ihre kleine, aber von Null
verschiedene Ruhemasse eine Schlüsselrolle in Kosmologie und Teilchenphysik. Der
erlaubte Bereich für ihre Masse ist nun durch die ersten Resultate des
Karlsruher Tritium Neutrino Experiments KATRIN am Karlsruher Institut für
Technologie (KIT) deutlich eingegrenzt worden -und dies bereits nach einer
ersten mehrwöchigen Neutrino-Messphase.

Überblick über das 70 Meter lange
KATRIN-Experiment mit den Hauptkomponenten:
Fensterlose gasförmige Tritiumquelle (a),
Pumpsektion (b) und Elektrostatische Spektrometer
und Fokalebenendetektor (c).
Bild: Michaela Meloni, KIT [Großansicht] |
Neben den Photonen, den masselosen elementaren Quanten des Lichts, sind
Neutrinos die häufigsten Teilchen im Universum. Durch den Nachweis des Phänomens
der Neutrino-Oszillation vor rund 20 Jahren konnte gezeigt werden, dass
Neutrinos – entgegen früheren Erwartungen – eine sehr kleine, von Null
verschiedene Masse besitzen. Damit spielen die "Leichtgewichte im Universum"
eine wichtige Schlüsselrolle bei der Bildung von großräumigen Strukturen im
Kosmos wie auch in der Welt der Elementarteilchen auf den allerkleinsten Skalen,
wo ihre extrem kleine Masse auf neue Physik jenseits bekannter Modelle
hindeutet.
Die weltweit genaueste Waage, das internationale KATRIN Experiment am
Karlsruher Institut für Technologie (KIT), soll nun in den nächsten Jahren die
Masse der faszinierenden Neutrinos mit bisher unerreichter Genauigkeit
bestimmen. Die KATRIN Kollaboration, an der 20 Institutionen aus 7 Ländern
beteiligt sind, konnte in den letzten Jahren zahlreiche technologische
Herausforderungen bei der Inbetriebnahme des 70 Meter langen Experimentaufbaus
erfolgreich meistern. Zur Jahresmitte 2018 erreichte KATRIN mit der feierlichen
Inbetriebnahme einen wichtigen Meilenstein.
Im Frühjahr dieses Jahres war es dann endlich soweit: Das 150-köpfige Team
konnte Neutrinos das erste Mal auf die supergenaue Waagschale von KATRIN
"legen". Dazu wurde über mehrere Wochen hochreines Tritiumgas in der Quelle –
dem vordersten Teil der KATRIN-Anlage zirkuliert und die ersten hochgenauen
Energiespektren von Elektronen aus dem Tritiumzerfall wurden mit dem
zeppelinförmigen Spektrometer aufgenommen, welches die Dimensionen eines
Einfamilienhauses hat und dessen Bilder von der Anlieferung im Jahr 2006 um die
Welt gingen.
Das internationale Analyseteam machte sich schließlich an die Arbeit, um aus
den aufgenommenen Daten das erste Resultat für die Neutrinomasse abzuleiten. Das
aktuelle Ergebnis von KATRIN baut auf jahrelangen Vorarbeiten auf, die einen
Rahmen für die Datenverarbeitung geschaffen, wichtige Störsignale und
Unsicherheitsquellen identifiziert und eingeschränkt sowie ein umfassendes
Modell des Instruments erstellt haben. Durch Simulationen und Testmessungen
gewannen die Analysten ein tiefes Verständnis für das Experiment und sein
detailliertes Verhalten. Im Frühjahr 2019 waren sowohl Hardware- als auch
Analysegruppen für die Neutrino-Massendatenerfassung bereit.
"Unsere drei internationalen Analyseteams arbeiteten bewusst getrennt
voneinander, um wirklich unabhängige Ergebnisse zu gewährleisten", erläutert
Thierry Lasserre vom CEA in Frankreich und dem MPI für Physik in München, der
Analysekoordinator für diese erste Messkampagne. "Dabei wurde besonders darauf
geachtet, dass kein Teammitglied vor Abschluss des letzten Analyseschrittes das
Neutrino-Massenergebnis vorzeitig ableiten konnte".
Wie in heutigen Präzisionsexperimenten üblich, wurden wichtige
Zusatzinformationen, die zur Vervollständigung der Analyse erforderlich sind,
verschleiert, ein Prozess, der von Fachleuten als "Blinding" bezeichnet wird. Um
ihre letzten Schritte abzustimmen, trafen sich die Analysten Mitte Juli zu einem
einwöchigen Workshop am KIT. Am späten Abend des 18. Juli waren die letzten
Details abgestimmt und die nötigen Zusatzinformationen konnten freigegeben
werden ("Unblinding").
Infolgedessen suchten die drei Analyseprogramme, die gleichzeitig über Nacht
durchgeführt wurden, nach der eindeutigen Signatur eines massiven Neutrinos. Am
nächsten Morgen gaben alle drei Gruppen identische Ergebnisse bekannt, die die
absolute Massenskala der Neutrinos auf einen Wert von weniger als 1
Elektronenvolt (eV) mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent begrenzen. Damit
muss die Masse des Neutrinos mindestens 500 000 mal kleiner sein als die des
Elektrons.
Die beiden langjährigen KATRIN Co-Sprecher, die Professoren Guido Drexlin vom
KIT und Christian Weinheimer von der Universität Münster, kommentieren dieses
erste Ergebnis mit großer Freude: "Dass KATRIN nach einer Messkampagne von nur
wenigen Wochen nun bereits die weltbeste Sensitivität für die Neutrinomasse
besitzt und die mehrjährigen Messungen der Vorgängerexperimente um einen Faktor
2 verbessert, zeigt das außerordentlich hohe Potential unseres Projekts."
Als Leiterin der KATRIN Analyseaktivitäten am KIT hat Dr. Kathrin Valerius
einen wesentlichen Anteil am nun erzielten Erfolg. Ihre seit Mitte 2014
bestehende Helmholtz-Nachwuchsgruppe am KIT bildet den Kern eines der drei
Analyseteams und hat in den Vorjahren besonders wichtige Arbeiten bei der
Modellierung der Tritiumquelle und dem Studium der mit ihr verbundenen
Systematik geleistet. Die seit langem von Neutrinos begeisterte Gruppenleiterin
sagt zum ersten Resultat der KATRIN-Messung: "Wir sind sehr stolz, mit diesem
hochmotivierten und hochtalentierten Team die ersten Neutrino-Daten analysieren
zu können".
Die Mitte des Monats auf Fachtagungen im japanischen Toyama und am Karlsruher
Institut für Technologie vorgestellten Analysen, die gleichzeitig zur
Veröffentlichung eingereicht wurden, nutzen ein seit langem bekanntes Prinzip
zur direkten, kinematischen Bestimmung der Neutrinomasse: beim Beta-Zerfall von
Tritium teilen sich das dabei entstehende Elektron und sein neutraler, hier
nicht nachgewiesener Partner, das (Elektron-) Neutrino, die freiwerdende Energie
von rund 18600 eV. In sehr seltenen Zerfällen erhält das Elektron praktisch die
gesamte Energie, während für das Neutrino nur ein winziger Bruchteil davon übrig
bleibt, mindestens aber – gemäß Einstein – der Betrag E = mc² seiner Ruhemasse.
Dies führt zu einer sehr kleinen Modifikation des Elektronenspektrums durch
die Neutrinomasse, nach der das KATRIN-Team nun in dem nur wenige Dutzend
Elektronenvolt schmalen Energieintervall am Endpunkt des Spektrums gesucht hat.
Insgesamt wurden in diesem Intervall in der mehrwöchigen Messphase rund zwei
Millionen Elektronen nachgewiesen. Dies ist nur ein winziger Bruchteil der
insgesamt erzeugten Rate an Elektronen aus Tritiumzerfällen von ca. 25
Milliarden pro Sekunde.
Um diese hohe Rate aufrecht zu erhalten, muss die gasförmige Tritiumquelle
von KATRIN Teil eines geschlossenen Tritiumkreislaufs sein, für dessen Betrieb
die gesamte Infrastruktur des Tritiumlabors Karlsruhe erforderlich ist. Das sich
an die Quelle anschließende riesige elektrostatische Spektrometer mit seiner
Länge von 24 Metern und seinem Durchmesser von 10 Metern agiert dabei als
Präzisionsfilter, welches nur die höchstenergetischen Elektronen bei 18600 eV
durchlässt.
Durch Variation der ultra-genauen (im Millionstel-Bereich)
Retardierungs-Spannung, die den Sensor genau definiert vor zu langsamen
Elektronen abschirmt, über einen Bereich von wenigen Dutzend Volt lässt sich so
eine bisher unerreichte Präzision in der Spektroskopie im Tritiumzerfall
erreichen. Mit der weltbesten Obergrenze für die Masse des Neutrinos hat KATRIN
den ersten Schritt bei der Erforschung der Eigenschaften von Neutrinos hinter
sich gebracht, viele weitere werden in den kommenden Jahren folgen.
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