Neutrinowaage nimmt Betrieb auf
Redaktion
/ Pressemitteilung des Karlsruher Instituts für Technologie astronews.com
11. Juni 2018
Wie schwer sind Neutrinos? Diese unscheinbare Frage gehört
zu den wichtigsten Fragestellungen in der modernen Teilchenphysik und
Kosmologie. Zu einer Antwort könnte in den kommenden Jahren das Karlsruher Tritium
Neutrino Experiment KATRIN beitragen. Es hat heute - nach 15-jähriger Bauzeit -
den regulären Messbetrieb aufgenommen.

Im Inneren des Hauptspektrometertanks des
Karlsruher Tritium Neutrino Experiments KATRIN,
das am 11. Juni 2018 seinen Messbetrieb
aufgenommen hat.
Foto: Michael Zacher / KIT [Großansicht] |
Die Neutrinowaage KATRIN nimmt den Messbetrieb auf: Nach
Hauptspektrometer und Detektoreinheit ist mit der Tritiumquelle auch die letzte
der Großkomponenten des Experimentes installiert. Erstmals werden nun durch den
Beta-Zerfall von hochreinem Tritiumgas die Elektronen und Neutrinos erzeugt,
deren Energieverhältnis von KATRIN bestimmt werden soll. Ein großes Team an
erfahrenen Physikern, Ingenieuren und Technikern am Karlsruher Institut für
Technologie (KIT) sorgt dabei für den reibungsfreien Betrieb der zahlreichen
Hochtechnologie-Bausteine bei KATRIN und am Tritiumlabor Karlsruhe (TLK).
"KATRIN ist ein Experiment der Superlative und wird die Erkenntnisse über
unser Universum um ein entscheidendes Puzzleteil ergänzen", sagte
Bundesforschungsministerin Anja Karliczek anlässlich der heutigen
Inbetriebnahme. "Ich gratuliere dem KIT und der Forschungskollaboration zum
erfolgreichen Aufbau dieses anspruchsvollen Experiments. Gemeinsam mit Ihnen
freue ich mich auf den nun anstehenden Start der Messphase und die ersten
Forschungsergebnisse. Ein derartig wichtiges Experiment auf deutschem Boden
stärkt den Forschungsstandort Deutschland."
Das Bundesforschungsministerium ist mit etwa 75 Prozent größter Geldgeber und
investierte rund 50 Millionen Euro in den Bau von KATRIN. "Große
Forschungsgeräte treiben die technologische Entwicklung voran und bilden am KIT,
der Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft, ein inspirierendes
Arbeitsumfeld für Forschende und Studierende", resümiert Professor Holger
Hanselka, Präsident des Karlsruher Instituts für Technologie. "Mit KATRIN hat
eine internationale Forschergemeinde ihre Heimat am KIT gefunden und ich bin
gespannt, welche faszinierenden Einblicke in das Universum uns dieses kreative
und interdisziplinäre Team eröffnet."
"Im Zoo der uns bekannten Elementarteilchen sind Neutrinos die vielbeachteten
Superstars, die in ihrer Bedeutung für unser modernes Weltbild Quarks und Co.
weit in den Schatten stellen", erklärt der wissenschaftliche Co-Sprecher der
internationalen KATRIN-Kollaboration, Professor Guido Drexlin vom KIT. Auch für
Kosmologen spielen die beim Urknall in großer Anzahl erzeugten Neutrinos als
"Geisterteilchen des Universums" eine Schlüsselrolle beim Verständnis von
großräumigen Strukturen im Weltall. Wie groß diese Rolle genau ist, hängt von
der Größe ihrer Masse ab, die bisher noch unbestimmt ist. "Erst seit knapp zwei
Jahrzehnten wissen wir, dass Neutrinos – entgegen früheren Vorhersagen der
Teilchenphysiker – überhaupt eine Ruhemasse besitzen", so Drexlin.
Diesen Beweis erbrachten die Professoren Arthur B. McDonald und Takaaki
Kajita, die erstmals Umwandlungsprozesse von massiven Neutrinos zweifelsfrei
nachweisen konnten. Dafür wurden sie 2015 mit dem Nobelpreis für Physik geehrt.
Bis heute ist die von Null verschiedene Neutrinomasse der einzige im Labor
bestätigte Hinweis auf neue Physik jenseits des Standardmodells der
Teilchenphysiker. "KATRIN wird auf den bahnbrechenden Untersuchungen von
McDonald und Kajita aufbauen und dabei andere physikalischen Prinzipien und
experimentelle Methoden benutzen, um die Masse des Neutrinos modellunabhängig zu
bestimmen", erläutert Drexlin. Die beiden mit KATRIN eng verbundenen
Nobelpreisträger waren zur Einweihung anwesend, wie viele andere internationale
Fachkollegen auch. "KATRIN ist ein internationales Flaggschiffprojekt, auf
dessen Resultate wir sehr gespannt sind", äußerten sie sich im Vorfeld der
Einweihung.
Bei den später 100 Milliarden Beta-Zerfallsprozessen von molekularem Tritium
pro Sekunde in der Tritiumquelle von KATRIN entstehen jeweils ein Elektron und
ein Neutrino, die sich die Zerfallsenergie von 18.600 Elektronenvolt teilen. In
extrem seltenen Fällen geht das Neutrino dabei fast "leer aus", und das Elektron
erhält praktisch die gesamte Energie. Durch Einsteins berühmte Formel E=mc² weiß
man, dass das beim Zerfall nicht beobachtbare Neutrino mindestens seine
Ruhemasse wegtragen muss, sodass die entsprechende Energie dem Elektron fehlt.
Genau diesem winzigen Fehlbetrag von höchstens 0,2 Elektronenvolt (das
entspricht der unvorstellbar geringen Masse von 3,6x10-37 Kilogramm)
sind die KATRIN-Forscher mit ihrer Neutrinowaage auf der Spur. Sie soll messen,
welche maximale Energie die Elektronen aus dem Beta-Zerfall von Tritium
erreichen. Gegenüber früheren Neutrinomassen-Experimenten verfügt KATRIN über
eine um einen Faktor 100 intensivere Quelle und stark verbesserte
spektroskopische Eigenschaften.
"KATRIN ist ein Wunder der Technik", schwärmt Professor Ernst Otten von der
Universität Mainz, der frühere Messungen an einem Vorläuferexperiment in Mainz
geleitet hat und der einer der Gründerväter von KATRIN ist. Bei den
Inbetriebnahme-Messungen konnte das KATRIN-Team viele technische Neuerungen
erfolgreich erproben und dabei diverse "Weltrekorde" aufstellen. "Eine besondere
Erfolgsgeschichte ist das ultrapräzise Hochspannungssystem und das 700
Quadratmeter große Drahtelektrodensystem für das große Spektrometer. Ohne
derartige Entwicklungen würde KATRIN nicht die gewünschte Empfindlichkeit auf
die Neutrinomasse erreichen können", erläutert Professor Christian Weinheimer
von der Universität Münster, ebenso wie Drexlin wissenschaftlicher Co-Sprecher
von KATRIN, der mit seiner Gruppe durch die Entwicklung und den Bau wichtiger
Komponenten an wesentlichen Stellen zum Erfolg des Projekts beigetragen hat.
Zahlreiche der für KATRIN entwickelten Technologien finden bereits jetzt in
anderen Experimenten und sogar in anderen Disziplinen Anwendung. Das
internationale Team konnte vor kurzem einen letzten wichtigen Erfolg feiern: Die
sehr anspruchsvollen Anforderungen an die Stabilitätsparameter der Quelle
konnten um mehr als eine Größenordnung unterboten werden.
Die Tritiumquelle besteht aus einem 16 Meter langen hochkomplexen Kryostaten,
der wie alle anderen Komponenten der Quelle im TLK aufgebaut ist. Das TLK mit
seiner weltweit einzigartigen Tritium-Infrastruktur gab den Ausschlag, dass
KATRIN am KIT steht. Die Elektronen aus der Quelle werden über starke Magnete
zum Herzstück von KATRIN geleitet, dem riesigen elektrostatischen Spektrometer.
Dieses wurde 2006 in einer aufsehenerregenden Reise vom Hersteller in Oberbayern
auf dem Schiffsweg über die Donau, das Mittelmeer und dann rheinaufwärts zum KIT
gebracht.
Das Spektrometer ist seit mehreren Jahren der weltgrößte
Ultrahochvakuum-Behälter: In seinem Inneren ist der Druck so niedrig wie an der
Mondoberfläche. Ein System von aktiven und passiven Pumpsystemen sorgt dafür,
dass kein Tritiummolekül von der Quelle ins Ultrahochvakuum des Spektrometers
gelangt. Nach vielen Jahren der Planung und des Aufbaus sowie der Inbetriebnahme
der Großkomponenten des 70 Meter langen Experimentaufbaus freuen sich die knapp
200 Mitglieder der internationalen KATRIN-Kollaboration aus 20 Institutionen in
sieben Ländern, dass die Messungen nun im Juni 2018 starten.
"Ich bin besonders stolz auf unser enthusiastisches Team mit seinem
unglaublichen Einsatz und seiner breiten Expertise", betont Drexlin, der als
Projektleiter auch den Aufbau von KATRIN am KIT koordinierte. "Mein besonderer
Dank gilt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der
Helmholtz-Gemeinschaft, die den Aufbau von KATRIN über viele Jahre unterstützt
und finanziert haben."
"Die einzigartigen Eigenschaften von Quelle und Spektrometer sind von großer
Wichtigkeit für die komplexe Datenauswertung. Gerade die ersten Wochen der
Datennahme werden besonders spannend werden, da wir dann bereits in
experimentelles Neuland vorstoßen können", stellt Dr. Kathrin Valerius fest, die
am KIT eine Helmholtz-Hochschul-Nachwuchsgruppe leitet und zusammen mit den
Professorinnen Susanne Mertens vom Max-Planck-Institut für Physik und der
Technischen Universität München und Diana Parno von der Carnegie Mellon
University in den USA die Arbeiten des internationalen Analyseteams
koordiniert. Dieses umfasst zahlreiche Postdoktoranten, Doktoranden sowie viele
Master- und Bachelorstudierende.
Mit der offiziellen KATRIN-Einweihung am 11. Juni geht für das internationale
KATRIN-Team ein langgehegter Traum in Erfüllung. "Nur mit Entschlossenheit, Mut
und einer gehörigen Portion Enthusiasmus lässt sich ein Pionierprojekt wie
KATRIN realisieren", fasst Prof. Hamish Robertson von der University of
Washington in Seattle, der langjährige US-Sprecher von KATRIN, den langen
Weg von den ersten Ideen in 2001 bis heute zusammen. Als Erfinder der
gasförmigen molekularen Tritiumquelle und Koordinator der wichtigen Aktivitäten
der US-Kollegen bei KATRIN kann er auf viele Meilensteine in der
Neutrinoforschung zurückblicken.
"Der Weg war voller Herausforderungen. Jetzt stehen wir am Start, und freuen
uns auf spektakuläre und überraschende KATRIN-Resultate, in guter Tradition der
Neutrinophysik der letzten Jahrzehnte", schauen Drexlin und Weinheimer und das
gesamte KATRIN-Team erwartungsvoll nach in die Zukunft.
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