Wie kosmische Schneemänner entstehen
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Universität Tübingen astronews.com
27. April 2020
Am Neujahrstag des Jahres 2019 flog die Sonde New
Horizons an dem Kuipergürtelobjekt 2014 MU69 vorüber, das inzwischen den
Namen Arrokoth trägt. Es gleicht offenbar einem gewaltigen, auf der Seite
liegenden Schneemann. Doch wie ist es entstanden? Ein internationales Team hat
dazu umfangreiche Simulationen durchgeführt und präsentierte jetzt ein mögliches
Szenario.
Ergebnis der detaillierten Simulation einer
Kollision von zwei Objekten im Kuipergürtel, die
die Entstehung von Arrokoth erklären kann.
Bild: Oliver Wandel, Christoph Schäfer [Großansicht] |
Das asteroidähnliche Objekt Arrokoth im Kuipergürtel ist das erdfernste
Objekt am Rand unseres Sonnensystems, das von einer Sonde besucht wurde und von
dem es detaillierte Fotos gibt. Sein Aufbau aus zwei ungleich großen rundlichen
Teilen, die durch einen schmalen Hals verbunden sind, trug ihm den Spitznamen
"Schneemann" ein. Ein Forschungsteam unter der Leitung von Evgeny Grishin, Dr.
Uri Malamud und Professor Hagai Perets von Technion, dem Israel Institute of
Technology, hat untersucht, wie sich die ursprünglich zwei Körper von
Arrokoths Gestalt aneinanderfügten, ohne in einer Kollision zerstört zu werden.
Oliver Wandel und Dr. Christoph Schäfer vom Institut für Astronomie und
Astrophysik der Universität Tübingen haben die Simulationen entwickelt, mit
denen die Wissenschaftler ihre Hypothesen überprüft haben. Danach gehen sie
davon aus, dass Arrokoth im komplexen Dreiersystem mit der Sonne durch die
langsame Annäherung zweier kleiner Körper entstanden ist. Mit ihrem Modell lässt
sich allgemein die Entstehung vieler Doppelsysteme im Kuipergürtel erklären.
Arrokoth erhielt am 1. Januar 2019 Besuch von der NASA-Raumsonde New
Horizons, die 2006 zur Erforschung von Pluto gestartet war. Die Sonde kam
bis auf 5500 Kilometer an Arrokoth heran. Noch unter den früheren vorläufigen
Namen 2014 MU69 war Arrokoth als geeignetes, nicht zu weit von Pluto entfernt
liegendes Objekt zur näheren Erforschung bei dieser Mission ausgewählt worden.
Arrokoth bedeutet "Himmel" oder "Wolke" in der inzwischen ausgestorbenen Sprache
Powhatan eines amerikanischen Stammes.
Der Zwergplanet Pluto ist das größte Objekt am Rand des Sonnensystems.
Daneben finden sich in dieser als Kuipergürtel bezeichneten Region jenseits von
Neptun zahllose asteroidenähnliche Objekte, die eine Größe von wenigen Metern
bis zu Tausenden von Kilometern haben. Die Bedingungen in diesem Bereich
unterscheiden sich stark von denen des Schwester-Asteroidengürtels weiter innen
im Sonnensystem. Vor allem ist es im Kuipergürtel viel kälter, und die dortigen
Objekte bestehen typischerweise zu großen Teilen aus Eis.
Die Sonde New Horizons lieferte eine ganze Reihe von Bildern und
Informationen über Arrokoth: Es handelt sich um ein rund 30 Kilometer langes
Doppelsystem aus sich berührenden Körpern. "Arrokoth hat einige merkwürdige
Eigenschaften", sagt Grishin. "Er rotiert mit langsamer Geschwindigkeit um sich
selbst, sein 'Tag' dauert knapp 16 Stunden. Außerdem ist sein Neigungswinkel –
relativ zu seiner Umlaufbahn um die Sonne – mit 98 Grad sehr groß." Der
Schneemann liegt also quasi auf der Seite.
Die Forscher sind sicher, dass Arrokoth aus zwei kleineren
Kuipergürtelobjekten entstanden ist. Doch bisher war der genauere Ablauf unklar.
"Eine zufällige direkte Kollision zweier Objekte im Kuipergürtel mit hoher
Geschwindigkeit würde die Objekte zerstören, da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit
hauptsächlich aus weichem Eis bestehen", erklärt Grishin. "Würden sich zwei
Körper in einer kreisförmigen Umlaufbahn umeinander drehen – ähnlich wie der
Mond die Erde umrundet –, sich dann langsam spiralförmig annähern und bei
geringer Geschwindigkeit aneinander stoßen, müsste die
Eigenrotationsgeschwindigkeit von Arrokoth extrem hoch sein. Das entspricht
jedoch nicht der gemessenen langsamen Eigenrotation."
Die israelischen Forscher haben daher ein Modell entwickelt, das die
Bedingungen im Kuipergürtel besser wiedergibt. "Unserem Modell zufolge umkreisen
sich die beiden Körper, doch weil sie gemeinsam die Sonne umkreisen, handelt es
sich nicht um ein Doppel-, sondern um ein Dreiersystem. Solche Systeme, bei
denen sich drei Objekte gegenseitig anziehen, haben eine komplexe Dynamik, dies
ist in der Physik als das Drei-Körper-Problem bekannt", erläutert Grishin. "Das
System von Arrokoth verhielt sich aber weder völlig chaotisch, wie es bei
komplexen Dreiersystemen zu erwarten war, noch aber in einfacher und geordneter
Weise."
Die Forscher haben dieses Szenario für die Entstehung von Arrokoth
aufgestellt: "Die beiden Objekte umrundeten sich anfangs in einer weiten,
weitgehend kreisförmigen Umlaufbahn, die sich in einem langdauernden Prozess in
eine stark exzentrische, elliptische Umlaufbahn weiterentwickelte2, beschreibt
Hagai Perets die Abläufe. "Wir konnten belegen, dass solche Bewegungsbahnen zu
einer Kollision führen können, die einerseits langsam ist und die Objekte nicht
zerstört, aber andererseits ein langsam rotierendes, stark geneigtes Objekt zum
Ergebnis hätte, in gleicher Weise, wie Arrokoths Eigenschaften beobachtet
wurden."
Für die detaillierten Simulationen haben die Tübinger Forscher spezielle
Computercodes entwickelt, die auf dem Bioinformatik/Astrophysik-Cluster BinAc
des Zentrums für Datenverarbeitung der Universität laufen. "Wir mussten Hunderte
von Simulationen durchführen, um alle Messdaten aus dem All konsistent
zusammenzuführen", erklärt Schäfer und Wandel ergänzt: "Die Feldforschung im All
ist noch im Frühstadium. Die Körper, aus denen Arrokoth aufgebaut ist, haben
eine hohe Porosität, die Eigenschaften des Körperinnern sind aber nicht genau
bekannt. Daher mussten wir mit einer Vielzahl unterschiedlicher Annahmen
arbeiten."
Die Forscher gehen davon aus, dass solche Prozesse, die zur Entstehung von
Arrokoth führten, recht verbreitet sind. Bis zu 20 Prozent der Doppelsysteme im
Kuipergürtel könnten auf ähnlichem Weg entstanden sein. Auch das System von
Pluto und seinem Mond Charon könnte durch einen ähnlichen Prozess entstanden
sein. "Wahrscheinlich spielen solche Abläufe allgemein eine wichtige Rolle bei
der Entstehung von Doppelsystemen und Mondsystemen in unserem Sonnensystem",
glaubt Malamud. "Die Objekte im Kuipergürtel sind Überbleibsel aus der Zeit, in
der die Planeten entstanden sind. Sie sind mehr als 4,5 Milliarden Jahre alt.
Durch die Untersuchung dieser Objekte können wir möglicherweise auch viel über
die Entstehung der Planeten erfahren", so Schäfer.
Über ihre Ergebnisse berichten die Wissenschaftler in einem Fachartikel, der
in der Zeitschrift Nature erschienen ist.
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