Auf dem Weg zur Quantenchemie im Weltraum
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Leibniz Universität Hannover astronews.com
17. November 2023
Im ferngesteuerten Cold Atom Lab der NASA an Bord
der Internationalen Raumstation ISS konnte jetzt zum ersten Mal im Weltraum eine
Mischung aus zwei Quantengasen hergestellt werden, die aus zwei Arten von Atomen
bestehen. Künftig ermöglicht dies ganz neue Möglichkeiten, etwa auch zur
Überprüfung fundamentaler physikalischer Gesetze.
Blick aus der Internationalen Raumstation
auf die Kapsel, die das Cold Atom Lab zur ISS brachte.
Foto: NASA / JPL-Caltech [Großansicht] |
Zum ersten Mal haben Forschende im Weltraum eine Mischung aus zwei
Quantengasen hergestellt, die aus zwei Arten von Atomen bestehen. Sie nutzten
dafür das ferngesteuerte Cold Atom Lab der NASA an Bord der
Internationalen Raumstation. Der Erfolg ist ein weiterer Schritt auf dem Weg,
die bisher nur auf der Erde verfügbaren Quantentechnologien ins All zu bringen.
Physiker der Leibniz Universität Hannover (LUH) lieferten im Rahmen einer
Zusammenarbeit mit Professor Nicholas Bigelow von der Universität Rochester die
dafür notwendigen theoretischen Berechnungen.
Die Forschungsergebnisse machen es nun möglich, nicht nur die
Quanteneigenschaften einzelner Atomsorten zu untersuchen, sondern auch die
Quantenchemie, die sich damit befasst, wie Isotope verschiedener Elemente
miteinander interagieren und sich in einem Quantenzustand verbinden. Forschende
können mit dem Cold Atom Lab jetzt eine breitere Palette von
Experimenten durchführen und feiner ermitteln, wie sie unter Bedingungen der
Mikrogravitation, also annähernder Schwerelosigkeit ablaufen.
Die physikalische Welt um uns herum beruht darauf, dass Atome und Moleküle
nach festen Regeln miteinander verbunden bleiben. Diese Regeln können jedoch
unterschiedlich stark ausgeprägt sein – abhängig von der Umgebung, in der sich
die Atome und Moleküle befinden, beispielsweise in Schwerelosigkeit. Mit dem
Cold Atom Lab können Szenarien erforscht werden, in denen die Quantennatur
der Atome ihr Verhalten dominiert. Das kann bedeuten, dass sich Atome und
Moleküle nicht mehr wie feste Kugeln, sondern eher wie Wellen verhalten. In
einem dieser Szenarien können die Atome in zwei- oder dreiatomigen Molekülen
zwar aneinander gebunden bleiben, sich aber immer weiter voneinander entfernen,
fast so, als würden sich die Moleküle aufplustern.
Um diese Zustände zu untersuchen, müssen zunächst die Atome verlangsamt
werden. Dazu werden sie auf Bruchteile eines Grades über der niedrigsten
Temperatur abgekühlt, die Materie erreichen kann und die weit kälter ist als
alles, was im natürlichen Universum vorkommt: der absolute Nullpunkt oder minus
273 Grad Celsius. Auf der Erde konnten diese aufgeplusterten Moleküle in
Experimenten mit ultrakalten Atomen bereits erzeugt werden, sie sind jedoch
extrem fragil und brechen entweder schnell auseinander oder kollabieren wieder
in einen normalen molekularen Zustand. Aus diesem Grund sind vergrößerte
Moleküle mit drei Atomen noch nie direkt abgebildet worden. In Mikrogravitation
können die empfindlichen Moleküle länger existieren und möglicherweise größer
werden. Entsprechende Versuche sind nun mit dem Cold Atom Lab möglich.
"Wir haben jetzt zum Beispiel völlig neue Möglichkeiten, das
Äquivalenzprinzip von Einstein zu testen, eine der grundlegendsten Annahmen der
Physik", sagt Naceur Gaaloul vom Institut für Quantenoptik der LUH. Das berühmte
Prinzip besagt, dass die Schwerkraft auf alle Objekte unabhängig von ihrer Masse
gleich wirkt. Physiklehrerinnen und -lehrer demonstrieren dieses Prinzip häufig,
indem sie eine Feder und einen Hammer in eine versiegelte Vakuumkammer legen und
zeigen, dass die beiden Objekte bei fehlender Luftreibung gleich schnell fallen.
Das Äquivalenzprinzip ist Teil von Albert Einsteins allgemeiner
Relativitätstheorie, dem Rückgrat der modernen Gravitationsphysik, die
beschreibt, wie sich große Objekte, wie Planeten und Galaxien, verhalten.
Eine der großen Frage der modernen Physik ist jedoch, warum die Gesetze der
Schwerkraft nicht mit den Gesetzen der Quantenphysik übereinzustimmen scheinen,
die das Verhalten kleiner Objekte wie Atome beschreiben. Beide Bereiche haben
sich in ihrem jeweiligen Größenbereich immer wieder als richtig erwiesen, bisher
konnten sie aber nicht zu einer einzigen Beschreibung des Universums als Ganzes
vereint werden.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Leibniz Universität Hannover
gehören zu den international führenden Expertinnen und Experten in der
Quantenforschung bei extrem tiefen Temperaturen - sowohl auf der Erde als auch
im Weltraum. So entwickelt die Topical Group "Cold Atoms in Space" des
Exzellenzclusters QuantumFrontiers neue Ideen für die fundamentale
Quantenphysik. An den Anlagen Very Long Baseline Atom Interferometer
und Einstein Elevator sind ultrakalte Atome das zentrale Element für
bahnbrechende Experimente in der Atomoptik mit Anwendungen in der hochgenauen
absoluten Gravimetrie und Tests der fundamentalen Physik.
Derzeit laufen auch die Vorbereitungen für den Start der Raketenmission
MAIUS-2, die die Erzeugung von Mischungen von Quantengasen im Weltraum
untersuchen wird und deren Ergebnisse die Grundlage für ehrgeizige
Interferometrie-Missionen zusammen mit der NASA auf der Internationalen
Raumstation ab 2027 bilden werden.
Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
jetzt in der Fachzeitschrift Nature.
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