Auch die Theorie spricht für kleineren Radius des Protons
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Universität Mainz astronews.com
20. Oktober 2023
Ist das Proton tatsächlich kleiner als lange Zeit
angenommen? Immer mehr deutet inzwischen darauf hin. Jetzt wurde der elektrische
Ladungsradius des Protons erstmals komplett ohne die Hinzuziehung
experimenteller Daten errechnet. Auch diese neuen Rechnungen favorisieren den
kleineren Wert und liefern noch weitere Daten.
Mit Supercomputern wie dem Hochleistungsrechner MOGON II
an der Universität Mainz wurde der Radius des
Protons berechnet.
Foto: Stefan F. Sämmer [Großansicht] |
Sämtliche bekannten Atomkerne bestehen aus Protonen und Neutronen – und doch
sind viele Eigenschaften dieser allgegenwärtigen Nukleonen noch nicht
verstanden. So gibt insbesondere der Radius des Protons seit einigen Jahren
Rätsel auf: Im Jahr 2010 sorgte eine neue Messung des Proton-Radius mithilfe der
Laserspektroskopie von myonischem Wasserstoff für Aufsehen – in diesem
"besonderen" Wasserstoff ist das Elektron in der Hülle des Atoms ersetzt durch
seinen schweren Verwandten, das Myon, wodurch sich die Genauigkeit der Messung
erheblich steigern ließ.
Die Forscher ermittelten einen deutlich kleineren Wert, als er aus
entsprechenden Messungen an "normalem" Wasserstoff und der Bestimmung des
Protonradius aus Elektron-Proton-Streuexperimenten bekannt war. Die große Frage,
die Physikerinnen und Physiker seitdem umtreibt: Verbirgt sich hinter der
Abweichung eine neue Physik jenseits des Standardmodells oder handelt es sich
"lediglich" um systematische Unsicherheiten der verschiedenen Messmethoden?
In den letzten Jahren gab es immer mehr Anhaltspunkte, dass der kleinere
experimentelle Wert der richtige ist, sich also keine neue Physik hinter dem
Proton-Radius-Rätsel verbirgt. Theoretische Berechnungen leisten einen
bedeutenden Beitrag, um diese Frage endgültig beantworten zu können. Bereits im
Jahr 2021 gelang es Forschenden um Prof. Dr. Hartmut Wittig von der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz (JGU) und vom Mainzer Exzellenzcluster PRISMA+ so
genannte Gitterrechnungen hinreichend präzise durchzuführen, um einen weiteren
verlässlichen Hinweis auf den kleineren Protonradius zu bekommen.
"Inzwischen sind wir nochmals einen großen Schritt vorangekommen", erläutert
Wittig. "So hat Miguel Salg, Doktorand in meiner Arbeitsgruppe, sehr schöne
Ergebnisse erzielt, die unsere frühere Rechnung nochmals deutlich verbessern und
ausweiten." Konkret hatte die Mainzer Forschungsgruppe vor zwei Jahren "nur" den
sogenannten Isovektor-Radius berechnet, was nicht dasselbe ist wie der
Proton-Radius. Den damals publizierten Wert für den Proton-Radius bestimmten sie
unter Hinzuziehung experimenteller Daten für den Neutron-Radius. "Mittlerweile
haben wir die damals noch fehlenden Anteile ebenfalls berechnet, unsere
Statistik erhöht und die systematischen Fehler besser eingegrenzt, so dass wir
nun auf experimentelle Daten erstmals vollständig verzichten können", beschreibt
Salg. "Außerdem konnten wir überprüfen, inwieweit unser Resultat von 2021 der
kompletten direkten Berechnung standhält — mit dem Ergebnis, dass wir auch 2021
mit dem Wert richtig lagen."
"Im Hinblick auf das Proton-Radius-Rätsel können wir sicher sagen, dass sich
auch durch die neuen Rechnungen die Hinweise immer weiter verdichten, dass der
Protonradius durch den kleineren Wert richtig beschrieben ist", ordnet Wittig
das Ergebnis ein. Die Rechnungen der Mainzer Physiker basieren auf der Theorie
der Quantenchromodynamik (QCD). Sie beschreibt das Kräftespiel im Atomkern: Dort
bindet die starke Wechselwirkung die Quarks als elementare Bausteine der Materie
zu Protonen und Neutronen zusammen und wird durch Gluonen als Austauschteilchen
vermittelt.
Um diese Vorgänge mathematisch simulieren zu können, greifen die Mainzer
Wissenschaftler auf die sogenannte Gitterfeldtheorie zurück. Ähnlich wie in
einem Kristall werden die Quarks dabei auf die Punkte eines Raum-Zeit-Gitters
verteilt. Mit speziellen Simulationsverfahren lassen sich dann bestimmte
Eigenschaften von Nukleonen unter Einsatz von Supercomputern berechnen: in einem
ersten Schritt die sogenannten elektromagnetischen Formfaktoren. Diese
beschreiben die Verteilung von elektrischer Ladung und Magnetisierung innerhalb
des Protons. Aus ihnen wiederum lässt sich der Proton-Radius bestimmen.
Neben dem elektrischen Ladungsradius, von dem bisher die Rede war, besitzt
das Proton auch einen magnetischen Ladungsradius, der ebenfalls Rätsel aufgibt.
Auch diesen haben die Mainzer Theoretiker auf Basis der QCD berechnet. "Man
könnte die unterschiedlichen Radien ganz vereinfacht durch die Ausdehnung einer
durch das Proton gegebenen Ansammlung elektrischer bzw. magnetischer Ladung
veranschaulichen, die ein einfliegendes Elektron im Streuprozess 'sieht'",
erläutert Wittig. Auch für den magnetischen Ladungsradius erhielt die Mainzer
Gruppe erstmals eine stabile Vorhersage, die rein auf theoretischen Berechnungen
basiert. "Aus der präzisen Kenntnis der elektrischen und magnetischen
Formfaktoren konnten wir darüber hinaus erstmals den sogenannten Zemach-Radius
des Protons rein aus der QCD herleiten, der für die experimentellen Messungen an
myonischem Wasserstoff eine wichtige Input-Größe ist. Dies zeigt einmal mehr,
wie weit die Qualität von Gitter-QCD Rechnungen inzwischen fortgeschritten ist",
so Wittig abschließend.
Alle neuen Erkenntnisse sind in drei Preprints beschrieben, die über den
arXiv.org-Server verfügbar sind.
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