Ein Hinweis auf solare Axionen?
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik astronews.com
18. Juni 2020
In den Daten von XENON1T, dem weltweit empfindlichsten
Dunkle-Materie-Detektor, haben Mitglieder der XENON-Kollaboration ein bislang
ungekanntes Signal entdeckt. Jetzt rätseln sie über dessen Ursprung: Es könnte
sich schlicht um eine bislang unentdeckte Verunreinigung handeln oder aber um
etwas sehr viel Spannenderes - den Hinweis auf die Existenz neuer Teilchen.
Blick ins Innere des mit reflektierender
Folie ausgekleideten Wassertanks mit dem
XENON1T-Detektor. Empfindliche Sensoren
identifizieren von kosmischer Strahlung im Wasser
erzeugte Lichtsignale.
Bild: XENON Collaboration [Großansicht] |
XENON1T war von 2016 bis Ende 2018 im Gran-Sasso-Untergrundlabor des
Istituto Nazionale di Fisica Nucleare (INFN) in Italien in Betrieb. Es diente
primär der Suche nach Teilchen der Dunklen Materie, die 85% der Materie im
Universum ausmacht, für die es aber bisher nur indirekte Hinweise gibt. XENON1T
hat zwar keine Dunkle Materie entdeckt, hat aber weltweit die beste Sensitivität
für die Suche nach sogenannten WIMPs (Weakly Interacting Massive Particles)
erreicht, die zu den theoretisch bevorzugten Kandidaten für Dunkle Materie
gehören.
Die sehr hohe Sensitivität von XENON1T erlaubt es darüber hinaus, nach
verschiedenen neuen Teilchen und bisher unbeobachteten Prozessen zu suchen. So
konnte die XENON-Kollaboration voriges Jahr die Beobachtung der seltensten
jemals direkt gemessenen Kernumwandlung publizieren. Der zur Suche nach
seltensten Ereignissen optimierte XENON1T-Detektor enthielt 3,2 Tonnen
hochreines, bei –95°C verflüssigtes Xenon, von denen die innersten zwei Tonnen
als Nachweismedium dienten.
Fliegt ein Teilchen durch die Flüssigkeit, kann es mit den Xenon-Atomen
zusammenstoßen, dabei schwache Lichtsignale auslösen und Elektronen aus dem
getroffenen Xenon-Atom schlagen. Da die meisten Wechselwirkungen auf bekannte
Teilchen zurückgehen, diente eine Vielzahl von aufwendigen Methoden dazu, solche
störenden Hintergrundereignisse auf ein bislang unerreicht niedriges Niveau zu
senken. Die verbleibende Anzahl von Hintergrundereignissen haben die
Wissenschaftler sehr sorgfältig bestimmt. Beim Abgleich der XENON1T-Daten mit
dem Hintergrund fanden die Forscherinnen und Forscher einen überraschenden
Überschuss von 53 Ereignissen über die erwarteten 232 Ereignisse.
Was ist nun der Ursprung dieses Signals? Eine Möglichkeit könnte ein bisher
unerkannter Hintergrund sein, und zwar die Anwesenheit extrem kleiner Mengen von
Tritium im flüssigen Xenon. Tritium, ein radioaktives Wasserstoffisotop mit zwei
extra Neutronen, zerfällt spontan unter Aussendung eines Antineutrinos sowie
eines Elektrons mit einer Energieverteilung ähnlich der beobachteten. Wenige
Tritiumatome auf 1025 Xenon-Atome (das entspricht etwa 2 kg Xenon)
würden genügen, um das Signal zu erklären. Allerdings gibt es derzeit keine
unabhängigen Messungen, die die Anwesenheit derart winziger Mengen Tritium im
Detektor bestätigen oder ausschließen könnten. Ob diese Erklärung für das
beobachtete Signal zutrifft, muss deshalb offenbleiben.
Eine weitaus spannendere Erklärung wäre die Existenz eines neuen Teilchens.
Das gemessene Energiespektrum gleicht demjenigen, das für in der Sonne erzeugte
Axionen erwartet wird. Axionen sind hypothetische Teilchen, die vorgeschlagen
wurden, um eine in der Natur beobachtete Symmetrie der Kernkräfte zu verstehen.
Die Sonne könnte eine starke Quelle von Axionen sein. Diese solaren Axionen sind
zwar keine Dunkle-Materie-Kandidaten, aber ihr Nachweis wäre die erste
Beobachtung einer sehr gut motivierten, aber noch nicht gefundenen Klasse von
Teilchen. Dies hätte große Bedeutung für das Verständnis von fundamentaler
Physik, aber auch von astrophysikalischen Phänomenen. Im frühen Universum
erzeugte Axionen könnten zudem eine Quelle für Dunkle Materie sein.
Alternativ könnten auch überraschende Eigenschaften von Neutrinos hinter dem
unerwarteten Signal stecken. In jeder Sekunde durchqueren Billionen von
Neutrinos völlig ungehindert den Detektor. Als eine Erklärung käme infrage, dass
das magnetische Moment der Neutrinos größer ist als vom Standardmodell der
Elementarteilchenphysik vorhergesagt, was ein klarer Hinweis auf "neue Physik"
wäre.
Von allen drei betrachteten Erklärungen zeigen Signale solarer Axionen die
beste Übereinstimmung mit den gemessenen Daten. Allerdings ist die statistische
Signifikanz von 3,5 Sigma (d. h. mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei
Zehntausendsteln handelt es sich bei dem Signal um eine zufällige Fluktuation,
die somit nicht völlig ausgeschlossen ist) zwar recht hoch, aber nicht hoch
genug für eine Entdeckung. Die beiden anderen Erklärungen sind mit 3,2 Sigma
ähnlich gut mit den Daten vereinbar.
Nach dem Umbau von XENON1T zu XENONnT mit der dreifachen aktiven
Detektormasse und geringerem Hintergrund werden bald noch bessere Daten zur
Verfügung stehen. Die Mitglieder der XENON-Kollaboration sind zuversichtlich
herauszufinden, ob dieses überraschende Signal nur eine statistische
Fluktuation, eine weitere Hintergrundkomponente oder etwas bei weitem
Spannenderes ist: ein neues Teilchen oder eine Wechselwirkung jenseits der
bekannten Physik.
In der XENON-Kollaboration arbeiten 163 Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler aus 28 Institutionen in 11 Ländern zusammen. Aus Deutschland
sind fünf Institutionen maßgeblich beteiligt. Das Team hat ein Preprint mit den Ergebnissen zur Verfügung gestellt, damit
auch anderen Forschungsgruppen einen Blick auf die Daten werfen können.
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