Ein äußerst seltener Zerfall
Redaktion
/ Pressemitteilung der Universität Münster astronews.com
8. Mai 2019
Ein internationales Forscherteam hat die längste jemals
direkt in einem Detektor beobachtete Halbwertszeit gemessen. Mit dem
XENON1T-Instrument, das die Physikerinnen und Physiker eigentlich zur Suche nach
Dunkler Materie einsetzen, gelang es ihnen zum ersten Mal, den Zerfall des Atoms
Xenon-124 zu beobachten. Die Entdeckung spricht für die Leistungsfähigkeit des
Detektors.

Ein Ausschnitt des imposanten Experiments:
Zu sehen ist ein zylinderförmiger Kryostat, der
an einer Stahlkonstruktion inmitten eines
riesigen Wassertanks hängt.
Bild: XENON Collaboration [Großansicht] |
1.500 Meter tief im italienischen Gran Sasso-Gebirge befindet sich das
Untergrundlabor Laboratori Nazionali del Gran Sasso (LNGS), in dem die
Wissenschaftler abgeschirmt von jeglicher Radioaktivität mit ihrem Experiment
nach Teilchen der Dunklen Materie suchen. Bislang hat sie noch niemand entdeckt.
Theoretischen Annahmen zufolge sollten diese Teilchen aber sehr selten mit einem
Atomkern "zusammenstoßen" – und auf Basis dieser Annahme funktioniert der
XENON1T-Detektor: Das Herzstück des Experiments ist ein zylinderförmiger Tank
von etwa einem Kubikmeter Volumen, gefüllt mit 3.200 Kilogramm flüssigem Xenon
bei einer Temperatur von minus 95 Grad Celsius.
Prallt ein Teilchen der Dunklen Materie auf einen Xenon-Atomkern, überträgt
es einen Teil seiner Bewegungsenergie auf den Kern, der daraufhin andere
Xenon-Atome anregt und dadurch zum Leuchten bringt. Diese sehr schwachen Signale
aus ultraviolettem Licht werden im oberen und unteren Bereich des Zylinders von
empfindlichen Lichtsensoren nachgewiesen. Dieselben Sensoren messen auch eine
winzige Menge an elektrischer Ladung, die bei der Kollision ebenfalls frei wird.
Wie eine neue Studie jetzt zeigt, ist der XENON1T-Detektor auch in der Lage,
andere seltene physikalische Phänomene zu messen – wie etwa den doppelten
Elektroneneinfang. Um diesen Prozess zu verstehen, muss man wissen, dass ein
Atomkern aus positiv geladenen Protonen und neutralen Neutronen besteht und von
mehreren Atomschalen umhüllt ist, die jeweils mit negativ geladenen Elektronen
besetzt sind. Das Element Xenon kommt in der Natur in verschiedenen Varianten
vor, die sich nur in der Zahl der Neutronen im Kern unterscheiden.
Eines dieser sogenannten Isotope, Xenon-124, enthält 54 Protonen und 70
Neutronen. Beim doppelten Elektroneneinfang fangen zwei Protonen des Kerns zwei
Elektronen aus der innersten Schale des Atoms ein, wandeln sich in zwei
Neutronen um und senden zwei Neutrinos aus. Da in der inneren Schale der
Atomhülle nun zwei Elektronen fehlen, sortieren sich die übrigen Elektronen um.
Dabei wird Energie frei, die in Form von Röntgenstrahlen und sogenannten Auger-Elektronen
ausgesendet wird.
Dieser doppelte Elektroneneinfang geschieht allerdings extrem selten und wird
von allgegenwärtigen Spuren "normaler" Radioaktivität überdeckt. Daher sind
diese Signale nur sehr schwer nachzuweisen. Zu den wichtigen Beiträgen der
deutschen Gruppen zum XENON-Experiment gehören verschiedene Methoden, störende
Signale von Radioaktivität soweit wie möglich zu reduzieren.
Und so wurde der doppelte Elektroneneinfang nachgewiesen: Die Röntgenstrahlen
aus dem doppelten Elektroneneinfang innerhalb des flüssigen Xenons erzeugten ein
erstes, kurzes Lichtsignal und freie Elektronen. Diese bewegten sich in den
oberen Teil des Detektors, der mit gasförmigem Xenon gefüllt war, und erzeugten
dort ein zweites Lichtsignal. Die Zeitdifferenz zwischen den beiden Signalen
entspricht der Zeit, die die Elektronen brauchten, um oben anzukommen.
Aus dieser Differenz sowie der Information, welche Lichtsensoren das zweite
Signal "gesehen" hatten, konnten die Wissenschaftler die Position bestimmen, an
der der doppelte Elektroneneinfang stattgefunden hatte. Aus der Größe der
Signale ermittelten sie die beim Zerfall freigewordene Energie.
Über ein Jahr lang speicherten die Wissenschaftler alle Signale, die im
Detektor auftauchten, jedoch ohne sie sofort anzuschauen. Der Grund: Es handelte
sich um ein sogenanntes Blind-Experiment – das bedeutet, dass die Forscher die
Messungen im interessanten Energiebereich bis zum Abschluss der Datenanalyse
nicht sehen konnten. Auf diesem Wege wurde gewährleistet, dass die Ergebnisse
nicht durch persönliche Erwartungen verzerrt wurden.
Da die Wissenschaftler alle durch radioaktive Zerfälle verursachten
Störsignale genau beschreiben konnten, war am Ende klar: Die 126 Signale im
später aufgedeckten Bereich konnten nur vom doppelten Elektroneneinfang des
Xenon-124 stammen. Aus diesen nun erstmals beobachteten Kernzerfällen
berechneten die Physiker die enorme Halbwertszeit von 1,8 × 1022
Jahren. Dies ist der langsamste Prozess, der jemals direkt nachgewiesen werden
konnte. Es ist zwar bekannt, dass das Atom Tellur-128 mit einer noch längeren
Halbwertszeit zerfallen muss, allerdings wurde dieser Zerfall noch niemals
direkt beobachtet. Wissenschaftler leiteten seine Halbwertszeit indirekt aus
einem anderen Prozess ab.
"Dass es uns gelungen ist, diesen Vorgang zu beobachten, zeigt eindrucksvoll,
welches Potenzial in unserer Messmethode steckt – auch für Signale, die nicht
von Dunkler Materie herrühren", sagt Prof. Dr. Christian Weinheimer,
Teilchenphysiker an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU), dessen
Gruppe die Studie leitete.
Die neuen Ergebnisse machen deutlich, wie präzise der XENON1T-Detektor sehr
seltene Zerfälle registrieren und Störsignale herausfiltern kann. Beim
Beobachteten doppelten Elektroneneinfang handelt es sich um einen Zerfallskanal,
bei dem zwei Neutrinos ausgesendet werden. Dieser liefert aber auch erste
wichtige Erkenntnisse für Folgemessungen des sogenannten neutrinolosen doppelten
Elektroneneinfangs. Mit dessen noch ausstehender Entdeckung könnten wichtige
Fragen zur Natur der Neutrinos beantwortet werden.
Der Detektor XENON1T hat von Sommer 2016 bis Dezember 2018 Daten genommen und
wurde dann abgeschaltet. Aktuell bauen die Wissenschaftler der
XENON-Kollaboration das Experiment für die neue Phase XENONnT um, bei der die
aktive Detektormasse verdreifacht wird. Zusammen mit einer weiteren
Unterdrückung von Störsignalen aufgrund normaler Radioaktivität wird das den
Detektor um eine Größenordnung empfindlicher machen. Auch in dieser Phase des
Projekts sind die deutschen Gruppen federführend beteiligt.
Über die Entdeckung berichtete das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Nature erschienen ist.
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