Im Rahmen einer neuen Bettruhestudie erforscht das DLR in
Zusammenarbeit mit der NASA ab Herbst 2024 warum Astronautinnen und Astronauten
Koordinationsprobleme haben und was dagegen hilft. Gesucht werden dafür zwölf
Probandinnen und Probanden, die 88 Tage im Kölner :envihab verbringen möchten,
davon 60 Tage im Bett.
Astronautinnen und Astronauten, die auf die Erde zurückkehren, werden
direkt nach der Landung umsorgt: Ein ganzes Team assistiert beim Aussteigen
aus der Raumkapsel, richtet auf, stützt, führt erste Untersuchungen durch.
Was aber, wenn die Landung nicht auf der Erde, sondern auf dem Mond oder dem
Mars stattfindet? Dort hilft erst einmal niemand. Die Raumfahrenden sind auf
sich alleine gestellt – mit all den Folgen, die ein längerer Aufenthalt in
Schwerelosigkeit mit sich bringt: Schwindel, Stolpern,
Koordinationsstörungen. Das kann eine Mission gefährden. Damit das nicht
passiert, erforscht das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR)
mögliche Gegenmaßnahmen in einer Bettruhestudie. Wer ab September 2024
mitmachen möchte, kann sich noch bewerben.
"Die Teilnehmenden liegen nicht nur 60 Tage im Bett. Das Bett ist
außerdem zum Kopf hin um sechs Grad geneigt. Das heißt, der Kopf liegt
niedriger als die Füße", erklärt Dr. Edwin Mulder, Studienleiter am
DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin in Köln. "Bei dieser Neigung
verschieben sich die Flüssigkeiten im Körper fast genauso wie bei
Astronautinnen und Astronauten im Weltall." Ohne die Erdanziehungskraft
fließt mehr Flüssigkeit in die obere Körperhälfte und weniger in die Beine.
Der Druck im Kopf steigt, durch die körperliche Inaktivität bauen Muskeln
und Knochen ab, der Gleichgewichtssinn ist verwirrt und das
Herz-Kreislauf-System verändert sich – und das sind nur einige Folgen von
Aufenthalten in der Schwerelosigkeit, die sich auch in Bettruhestudien
zeigen. In der aktuellen SMC-Studie (Sensorimotor Countermeasures Study),
die wieder in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Luft- und
Raumfahrtbehörde NASA durchgeführt wird, geht es vor allem um
sensomotorische Beeinträchtigungen nach Aufenthalten im Weltraum und
mögliche Gegenmaßnahmen.
Das Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen – wie Hören, Sehen oder Fühlen
– und motorischen Reaktionen – wie Gehen, Greifen oder Werfen – kann nach
Weltraumreisen gestört sein. "Das wirkt sich bei ganz alltäglichen Dingen
aus. Etwa, wenn jemand einen Stein sieht und ein Bein heben muss, um ihn zu
überwinden", sagt Andrea Nitsche vom DLR-Institut für Luft- und
Raumfahrtmedizin. Sie wählt zwölf Probandinnen und Probanden aus, die sich
inklusive Vor- und Nachbereitung für genau 88 Tage in der Kölner
Forschungsanlage :envihab aufhalten, damit zukünftige Raumfahrende sicher
und koordiniert arbeiten können. Die erste Studienkampagne im :envihab
startet im September 2024, eine zweite im April 2025.
Bewerben können sich jeweils Personen zwischen 24 und 55 Jahren, die eine
Körpergröße von 1,53 bis 1,90 Meter und einen BMI von 18 bis 30 haben. Sie
müssen außerdem gesund sein, Nichtraucher und gut Deutsch sprechen. Für die
vollständige Teilnahme gibt es eine Aufwandsentschädigung von 18.000 Euro.
Von den 88 Tagen werden 60 im Bett in Kopftieflage verbracht. Drei Monate
nach Abschluss der Kampagne finden verpflichtende Nachuntersuchungen statt.
Das Auswahlverfahren ist mehrstufig: Über eine spezielle Website füllen die
Interessierten zuerst einen Fragebogen aus. Es folgen die Teilnahme an einer
Online-Informationsveranstaltung, psychologische Fragebögen,
Telefoninterviews, medizinische Voruntersuchungen in Köln, ein Bewertungstag
und schließlich die Studie.
Während der Kampagne wird die Wirksamkeit verschiedener Gegenmaßnahmen
getestet. Die Teilnehmenden bilden vier Gruppen. Eine Gruppe absolviert ein
sogenanntes propriozeptives Training in einem "Gravity Bed", um das Gefühl
für Lage, Körperhaltung und Bewegungen aufrechtzuerhalten. Das "Gravity Bed"
ist ein speziell angefertigter Simulator, in dem die Teilnehmenden auf einer
Art Luftkissen im Liegen "schweben". Die Füße werden über Gurte auf ein
Kippbrett gepresst, so dass die Teilnehmenden den Eindruck haben zu stehen.
Sie müssen sich in dieser Position auch bewegen und schulen so unter anderem
ihren Gleichgewichtssinn. Die zweite Gruppe macht zusätzlich ein Kraft- und
Ausdauertraining. Die dritte Gruppe erhält eine Muskelstimulation durch
elektrische Impulse (EMS). Die vierte Gruppe liegt im Bett und beteiligt
sich nicht an einer Gegenmaßnahme.
"Diese Kontrollgruppe ist wissenschaftlich sehr wichtig, denn sie zeigt
uns, was passiert, wenn man jede Art von Training weglässt. Die Ergebnisse
der anderen Gruppen werden am Ende mit dieser Gruppe verglichen", sagt
Mulder. Die Zuordnung erfolgt zufällig. Für alle gilt, dass tägliche
medizinische Untersuchungen und Experimente auf dem Programm stehen und dass
wirklich jede Tätigkeit im Liegen erledigt wird: Körperhygiene,
Toilettengang, mögliche Freizeitaktivitäten, Essen. Die Probandinnen und
Probanden bekommen frisch zubereitete, ausgewogene Mahlzeiten, die für ihren
individuellen Bedarf auf Gramm und Milliliter berechnet sind. Die
Teilnehmenden dürfen das :envihab während der 88 Tage nicht verlassen. Sie
können sich aber im Bett von ihren Einzelzimmern in einen Gemeinschaftsraum
schieben lassen für gemeinsame Aktivitäten wie Brettspiele oder Fernsehen.
Die 88 Tage beinhalten eine zweiwöchige Rehabilitation nach der
Bettphase. Mit Unterstützung von Physiotherapeuten und Trainern bilden sich
alle körperlichen Auswirkungen der Bettruhe wieder zurück. "Das DLR führt
schon seit den 1980er Jahren Bettruhestudien durch. Wir wissen, dass das
Mitmachen keine Kleinigkeit ist, sondern eine echte Herausforderung", sagt
Mulder. "Unsere Teilnehmenden, die wir terrestrische Astronautinnen und
Astronauten nennen, wachsen in den drei Monaten zu einer Gemeinschaft
zusammen. Und die meisten empfinden es als etwas Besonderes, an einer Studie
teilzunehmen, die wichtig für den Erfolg von zukünftigen Raumfahrtmissionen
ist."