Die bewegte Jugendzeit unserer Heimatgalaxie
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astronomie astronews.com
25. März 2022
Zwei Astronomen ist dank eines einzigartigen neuen
Datensatzes die bislang detaillierteste Rekonstruktion der Frühphase unserer
Heimatgalaxie gelungen: Vor etwa 13 bis und 8 Milliarden Jahren verschmolz die
Milchstraße mit anderen Galaxien und verbrauchte große Mengen an Wasserstoff, um
neue Sterne zu bilden. Dann wurde es deutlich ruhiger.

Aufbau unserer Heimatgalaxie. Die neuen
Ergebnisse liefern eine Rekonstruktion der
Geschichte unserer Milchstraße und insbesondere
der Entwicklung der sogenannten dicken Scheibe.
Bild: Stefan Payne-Wardenaar / MPIA [Großansicht] |
Zu verstehen, wie unsere Heimatgalaxie entstanden ist und sich entwickelt
hat, ist ein wichtiges Ziel der Astronomie und Astrophysik. Neue umfangreiche
Beobachtungsdaten haben dabei in den letzten Jahren zu beeindruckenden
Fortschritten geführt. Die neue Studie von Maosheng Xiang und Hans-Walter Rix
vom Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg ist ein nächster großer
Schritt: Die beiden Forscher konnten eine Reihe früher Phasen der
Milchstraßengeschichte erstmals genauer datieren. Möglich wurde das durch eine
Auswertung, bei der es gelang, das Alter von 250.000 Sternen präzise zu
bestimmen.
Nach unserem heutigen Verständnis hat unsere Heimatgalaxie in ihrem
bisherigen Leben mehrere Phasen durchlaufen. Während ihrer Frühphase
verschmolzen kleine, gasreiche Vorläufergalaxien zu einem Vorläufer-Gebilde, das
später zu unserer Milchstraße heranwuchs. Da die verschmelzenden Galaxien nicht
frontal miteinander kollidierten, verliehen sie der neu entstehenden Struktur
einen Drehimpuls, der zu einer Abflachung führte. So dürfte die sogenannte dicke
Scheibe unserer Milchstraße entstanden sein: Gas und Sterne in einer
abgeflachten Scheibe mit einem Durchmesser von 100.000 Lichtjahren und einer
Dicke von 6000 Lichtjahren.
Eine Reihe weiterer Verschmelzungen mit Galaxien, die etwas kleiner waren als
die Milchstraße, schufen den sogenannten stellaren Halo, der die
Milchstraßenscheibe umgibt – und jede weitere Verschmelzung brachte die
regelmäßigen Abläufe in unserer Galaxis etwas durcheinander. Die spätere
Entwicklungsphase unserer Galaxis dagegen verliefen wesentlich ruhiger. Sterne
entstanden (und entstehen) in jener Zeit vor allem in der sogenannten dünnen
Scheibe, die jünger und nur rund 2000 Lichtjahre dick ist.
Das neue Ergebnis von Xiang und Rix beschreibt nun detaillierter als je zuvor
die Geschichte der produktiven Jugendjahre der Milchstraße von vor etwa 13 bis 8
Milliarden Jahren. Entscheidend für diese Rekonstruktion war, dass es den
Astronomen gelungen war, das Alter von etwa 250.000 einzelnen Sternen genau zu
bestimmen. In der Astronomie ist das alles andere als eine leichte Aufgabe. Es
gibt jedoch eine bestimmte Sorte von Sternen, sogenannten "Unterriesen", bei
denen man das Alter direkt aus Oberflächentemperatur und Helligkeit eines Sterns
erschließen kann.
Der Nachteil ist, dass diese Unterriesen sehr selten sind. Nur wenige Prozent
der Sterne in unserer Milchstraße befinden sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in
diesem vergleichsweise kurzen Entwicklungsstadium. Glücklicherweise liefern
neuere, umfassende Himmelsdurchmusterungen qualitativ hochwertige Daten für eine
beeindruckende Anzahl von Sternen – genug, um auch zahlreiche Exemplare der
selteneren Sternsorten zu erfassen: Das Early Data Release 3 der
ESA-Mission Gaia, das im Dezember 2020 veröffentlicht wurde, lieferte
Positionsdaten und Entfernungen für fast 1,5 Milliarden Sterne, und die siebte
Daten-Veröffentlichung der LAMOST-Durchmusterung, die im Jahr 2021
veröffentlicht wurde, bot mehr als neun Millionen Sternspektren, die ihrerseits
Informationen über die Temperatur und die chemische Zusammensetzung der Sterne
enthalten. Indem sie die Informationen aus diesen beiden Datensätzen
kombinierten, konnten Xiang und Rix ihren umfangreichen Katalog von Sternen mit
bekanntem Alter zusammenstellen.
Indem sie die Sterne nach Alter und chemischer Zusammensetzung sortierten
erhielten die beiden Astronomen ein bemerkenswert klares Bild der
"Teenager-Zeit" unserer Heimatgalaxie – inklusive Zeitangaben, wann die
verschiedenen Phasen der Entwicklung stattgefunden hatten. Zunächst spielte die
Musik dabei vor allem im stellaren Halo und in der dicke Scheibe, die sich aus
einem anfänglichen Zustrom von Gas gebildet hatte. Xiang und Rix fanden dabei
heraus, dass sich vor etwa elf Milliarden Jahren in unserer Galaxie in kurzer
Zeit außergewöhnlich viele neue Sterne bildeten.
Das dürfte Folge eines ganz bestimmten Verschmelzungsereignisses sein: der
Verschmelzung unserer eigenen Galaxie mit der kleineren Galaxie, die den etwas
ungewöhnlichen Namen Gaia Enceladus/Sausage trägt. Die Überreste jener kleineren
Galaxie wurden 2018 von zwei konkurrierenden Gruppen anhand von Gaia-Daten
entdeckt und benannt.
In ihren Daten konnten Xiang und Rix erkennen, dass ein auffälliges
"Produktionsmaximum" bei der Sternentstehung damit zusammenfiel, dass sich die
Bahnen zahlreicher Sterne plötzlich und drastisch verändert hatten. Letzteres
ist eine offensichtliche Folge der Verschmelzung, konkret: des
Gravitationseinflusses der Gaia-Enceladus/Sausage-Galaxie. Damit dürfte das
Sternentstehungs-Maximum in der Milchstraße nicht nur zeitgleich mit der
Gaia-Enceladus/Sausage-Verschmelzung auftreten, sondern eine Folge der
Verschmelzung gewesen sein: Stoßwellen aus der Kollision der Gasmassen der
Gaia-Enceladus/Sausage-Galaxie mit dem Gas in unserer eigenen Galaxie könnten
den Kollaps von Gaswolken und damit die vermehrte Sternbildung ausgelöst haben.
Auch nachdem die turbulente Ära der Verschmelzungen beendet war, bildete die
dicke Scheibe auf ungewöhnlich produktive Weise Sterne. Die Gesamtzahl der
gebildeten Sterne lässt darauf schließen, dass die dicke Scheibe von Anfang an
beeindruckende Mengen an Gas enthielt. Das würde auch ihre vergleichsweise große
Dicke erklären. Mit einem so großen Vorrat an Gas waren die Bedingungen für die
Sternentstehung sehr günstig – auch ohne dass sich jene Scheibe zu einem
schmaleren Gebilde zusammenziehen musste, um die für die Sternentstehung nötigen
Gasdichten zu erreichen.
Vor allem massereiche Sterne produzieren viele Elemente, die schwerer sind
als Wasserstoff und Helium. Solche Elemente werden in der Astronomie (und
abweichend von unserem Alltags-Sprachgebrauch sowie dem der Chemie) als
"Metalle" bezeichnet. Die schwereren Elemente sammeln sich in der Regel in der
Nähe der zentralen Regionen der Galaxie. Sterne, die in jenen Regionen neu
entstehen, enthalten daher typischerweise mehr Metalle als Sterne, die in den
Außenbezirken entstehen.
Die von Xiang und Rix gesammelten Daten zeigen jedoch etwas anderes: Alle
Sterne, die zur selben Zeit entstehen, haben denselben Metallgehalt. Das gilt
vom frühestmöglichen Zeitpunkt an, der in den Daten sichtbar ist – 13 Milliarden
Jahre vor unserer Zeit, also nur 800 Millionen Jahre nach dem Urknall – bis zu
der Zeit vor rund acht Milliarden Jahren, ab dem unsere Milchstraße in ihre
gemäßigtere "Erwachsenenphase2 eintritt. Der Metallgehalt selbst ändert sich
dabei mit der Zeit: Je älter ein Stern ist, desto weniger Metalle enthält er.
Die einfachste Erklärung für diesen Umstand ist, dass während dieser ganzen
Zeit eine gründliche Durchmischung des Gases in der dicken Scheibe stattgefunden
hat – und diese Erklärung ist ein Schlüsselergebnis der neuen Studie. Auf diese
Weise hätten alle zur gleichen Zeit geborenen Sterne die gleiche chemische
Zusammensetzung geerbt, wobei der Anteil schwerer Elemente mit der Zeit zunahm,
da das Gas allmählich mehr und mehr mit den Produkten der Kernfusionsprozesse
früherer Sterngenerationen "verunreinigt" bzw. angereichert wurde.
Vor etwa acht Milliarden Jahren, so zeigen die neuen Daten, gingen die
produktiven Teenager-Jahre der Milchstraße zu Ende. Das dürfte daran gelegen
haben, dass die dicke Scheibe einen Großteil ihres anfänglichen Vorrats an
Wasserstoffgas aufgebraucht hatte. Offensichtlich gab es aber immer noch einen
stetigen Zufluss mäßiger Mengen an frischem Wasserstoffgas aus dem
intergalaktischen Raum, und da die Sternentstehungsaktivität in der dicken
Scheibe so gut wie beendet war, konnte sich dieses Gas nach und nach in einer
eigenen Scheibe ansiedeln.
Da aber insgesamt nicht so viel Gas einströmte, musste sich diese Scheibe
deutlich weiter zusammenziehen, auf eine Dicke von nur etwa 2000 Lichtjahren, um
die richtigen Bedingungen für eine (mäßige) Sternentstehung zu erreichen. Das
Ergebnis war das, was wir heute die dünne Scheibe unserer Galaxis nennen. Die
lange, eher bedächtige Erwachsenphase unserer Heimatgalaxie hatte begonnen. Eine
weitere Kollision samt Verschmelzung mit einer einigermaßen massereichen Galaxie
hätte die Dinge vielleicht ein wenig beleben können, aber das geschah nicht –
ein eher ungewöhnliches Schicksal, verglichen mit anderen Galaxien.
Alles andere als ungewöhnlich ist der allgemeine Trend: Eine produktive
Frühphase, gefolgt von einem ruhigen Leben, scheint nach aktuellen
Computersimulationen die Norm für die Galaxienentwicklung zu sein. Das ist die
neu rekonstruierte Version der Geschichte unserer Galaxie. Und was sich für eine
Darstellung der menschlichen Geschichte wie eine Selbstverständlichkeit anhört –
dass wichtige Ereignisse samt ihrer Daten genannt werden – ist für die
Astronomie eher ungewöhnlich. Es ist sehr schwierig, verlässliche Daten für
Ereignisse in der kosmischen Geschichte unserer Heimatgalaxie anzugeben. Dass
dies in der neuen Studie gelungen ist und somit eine detaillierte Zeitleiste der
"Teenager-Jahre" unserer Galaxie erstellt werden konnte, ist ein beachtlicher
Fortschritt.
Xiang und Rix planen derweil schon die nächsten Schritte. In nur einigen
Jahren sollte es noch deutlich bessere und umfassendere Datensätze geben. Um das
Jahr 2024 ist die vierte Daten-Veröffentlichung (Data Release 4, DR4) der Gaia-Mission
der ESA zu erwarten. Die präziseren Entfernungsmessungen (ermittelt über die
Parallaxe) dieser Veröffentlichung sollten genaue Altersschätzungen für eine
noch deutlich größere Anzahl von Sternen und über wesentlich größere
Entfernungen hinweg ermöglichen.
Detaillierte spektroskopische Durchmusterungen decken den Nordhimmel derzeit
ebenfalls nur bis zu vergleichsweise geringen Entfernungen ab. Das sollte sich
dank Durchmusterungen wie SDSS-V und 4MOST ändern. Insgesamt stehen die Chancen
gut, dass die hier beschriebene Pionierarbeit der Beginn eines neuen Kapitels
der galaktischen Archäologie sein könnte, das auf großen Stichproben mit
präzisen Sternaltern beruht.
Über ihre Ergebnisse berichten Xiang und Rix in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Nature erschienen ist.
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