20 Jahre Plasmaforschung im All
Redaktion
/ Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt astronews.com
4. März 2021
Seit 20 Jahren betreiben Physikerinnen und Physiker auf der
Internationalen Raumstation Experimente mit komplexen Plasmen. Die
Besatzungsmitglieder an Bord bilden dabei mit den Forschenden auf der Erde ein
perfektes Experimentierteam. Der Erfolg der bisherigen Plasmakristall-Labore ist
so groß, dass bereits über einen Nachfolger nachgedacht wird.

Das Plasmakristall-Labor PK-4.
Foto: Max-Planck-Institut für
extraterrestrische Physik
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Seit 20 Jahren sind sie eine zuverlässige Quelle für neue Einsichten in der
Physik: die Plasmakristall-Experimente an Bord der Internationalen Raumstation
ISS. Grundlagenwissen für die Lehrbücher der Zukunft ist das Hauptziel dieser
Forschung. Aus den gewonnenen Erkenntnissen lassen sich verschiedene Anwendungen
ableiten, insbesondere in den Bereichen Medizin, Umweltschutz, Raumfahrt sowie
bei Halbleiter- und Mikrochiptechnologien. Mittels Technologietransfers
erschließt die Plasmaforschung auch neue Anwendungsfelder, basierend etwa auf
den Entwicklungen der miniaturisierten raumfahrttauglichen Laborsysteme.
Bereits die erste ISS-Crew hatte Plasmaforschung auf ihrer Agenda und am 3.
März 2001 fiel der Startschuss für die ersten Langzeitversuche unter
Schwerelosigkeit. Die aktuelle Crew wird nun Ende März die neueste
Experimentreihe durchführen, unter der Leitung des erfahrenen Forschungsteams am
Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oberpfaffenhofen. "Für die
Forschung zu komplexen Plasmen bietet die Schwerelosigkeit die einzige
Möglichkeit den gesamten, wissenschaftlich interessanten Parameterraum zu
untersuchen. Sie ist prädestiniert für die ISS", sagt Gruppenleiter Dr. Hubertus
Thomas vom DLR-Institut für Materialphysik im Weltraum.
Plasma ist ionisiertes Gas und wird vielfältig technisch genutzt, zum
Beispiel in Leuchtstoffröhren oder Plasmafernsehern. Auf der Erde ist Plasma
sehr selten; in ihrer natürlichen Form kommt es zum Beispiel als Blitz vor. Im
Weltraum hingegen befindet sich 99 Prozent der sichtbaren Materie im
Plasmazustand. Dazu zählen Sterne, darunter die Sonne, oder die Ionosphäre von
Planeten. Wenn in dem elektrisch geladenen Gas zusätzlich Staubteilchen oder
andere Mikropartikel enthalten sind, entstehen sogenannte "komplexe Plasmen",
die kristalline Strukturen bilden können.
Neben der ausgeklügelten Technologie und Hardware sind auch die
"Ausführenden" an Bord der ISS für das Gelingen der Versuchsreihe wesentlich.
Der ESA-Astronaut Thomas Reiter hatte bisher als einziger Deutscher diese Rolle
inne. Im Rahmen der Mission Astrolab bediente er im August und Oktober 2006 das
Plasmakristall-Labor PK-3 Plus: "PK-3 Plus war ein wirklich interaktives
Experiment. Nach der Inbetriebnahme hatte ich bei vielen Versuchsserien direkte
Funkverbindung zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Boden. Die
Schilderung meiner Beobachtungen erlaubten es ihnen Modifikationen der
verschiedenen Versuchsparameter durchzugeben, die ich dann an dem
Plasmakristall-Labor einstellte. Es war faszinierend – trotz der großen
Entfernung zur Bodenstation war man Teil eines Forschungsteams. Die
Zusammenarbeit war nicht nur hochinteressant, sie hat auch riesigen Spaß
gemacht! PK 3 Plus war auch ein Beispiel dafür, dass Grundlagenforschung auch
ganz unerwartete Anwendungen für den Alltag auf der Erde haben kann", erinnert
sich Reiter, der mit Astrolab als erster Europäer eine Langzeitmission auf der
ISS absolvierte und heute als ESA-Koordinator internationale Agenturen und
Berater des Generaldirektors tätig ist.
Als Experimentatoren sehen, denken und handeln die Astronauten mit. Für die
Wissenschaftler am Boden können sie auf unterwartete Situationen reagieren oder
auf neue Erkenntnisse eingehen. Ein besonderes glückliches Händchen bewies
Kosmonaut Juri Baturin während der Experimentreihe im Mai 2001: In der
Laborkammer ließ sich das Plasma nicht zünden. Der Kosmonaut setzte das
Experiment jedoch fort und schüttelte Mikropartikel in das neutrale statt
geladene Gas der Kammer. Zum Erstaunen der Wissenschaftler waren die Teilchen
sowohl positiv als auch negativ geladen und formten durch die starke elektrische
Anziehung in Sekundenbruchteilen ein großes Agglomerat von mehreren Millimeter
Durchmesser und weitere "Klümpchen".
Anhand dieser Beobachtung könnte das bisherige Rätsel der Planetenentstehung
gelöst werden, wie die erste Phase der Agglomeration von Teilchen mit einer
Größe von Mikrometern vonstattengeht. Hier zeigt sich auch die Nähe des
Forschungsthemas zu natürlichen staubigen Plasmen, die in unserem Sonnensystem
zum Beispiel in den Ringen des Saturns oder auf dem Mond vorkommen. "Der Staub
ist eines der größten Probleme auf dem Mond! Gerade für die kommenden
Mondmissionen sind die grundlegenden Erkenntnisse der Plasmaforschung auf der
ISS wichtig, um die Eigenschaften von Mondstaub genauer zu verstehen und besser
damit umgehen zu können", erklärt Thomas. Der Staub im Sonnenplasma ist
aufgeladen, kann dadurch sogar schweben und hat einen stark haftenden Effekt. Da
Mondstaub scharfkantig ist, führt dies zu erhöhtem Verschleiß von Oberflächen
und Instrumenten und stellt ein gesundheitliches Risiko für die Astronauten dar.
Mit über 100 wissenschaftlichen Veröffentlichungen zählen die
Plasmakristall-Experimente zu den erfolgreichsten Forschungsprojekten auf der
ISS. Mehrfach haben die Erkenntnisse daraus das Lehrwissen der Physik erweitert
und revidiert. So konnte das Team rund um Thomas auch nachweisen, dass ein
komplexes Plasma ein neuer Zustand der weichen Materie ist. In der
Schwerelosigkeit breiten sich die geladenen Mikroteilchen frei im Raum aus und
bilden geordnete dreidimensionale Kristallstrukturen, sogenannte
"Plasmakristalle". Deren Entdeckung im Jahr 1994 veränderte die Lehrmeinung in
der Physik grundlegend, da Plasma bisher als ungeordnetster Zustand der Materie
galt.
Die Experimente an Bord der ISS machen physikalische Prozesse auf atomarer
Ebene sichtbar. Wie in Zeitlupe lassen sich die Bewegung von einzelnen "Atomen"
und ihre Wechselwirkungen nachverfolgen. In den letzten 20 Jahren gewannen die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dadurch einzigartige Einblicke in die
Bildung von großen Kristallstrukturen und langen Ketten, die Ausbreitung von
Wellen, zu Scherströmungen und zu den Fließeigenschaften von komplexen Plasmen.
Mit den Untersuchungen an dem Modellsystem trägt die Plasmaforschung dazu bei,
die dynamischen Prozesse und Phänomene besser zu verstehen und das
Grundlagenwissen in der Physik zu erweitern.
Die Faszination für das Weltall schwingt dabei immer mit: "Manchmal sieht man
den Überflug der ISS am Himmel und wenn ich mir vorstelle, dass da unser Labor
ist und ein Kosmonaut dort gerade ein Plasmakristall-Experiment durchführt, dann
finde ich das faszinierend. Wir haben nicht nur unser Labor im Keller, sondern
auch auf dem extremsten Außenposten der Menschheit – das ist auch nach 20 Jahren
immer noch etwas ganz Besonderes", so Thomas. Vom 22. bis 29. März 2021 finden
die nächsten Plasmakristall-Experimente wieder in rund 400 Kilometer Höhe statt.
Das erste Plasmakristall-Labor "PKE-Nefedov" war von 2001 bis 2005 im
Einsatz, gefolgt von "PK-3 Plus" für weitere sieben Jahre. Seit 2014 ist das
Labor "PK-4" in Betrieb und ist wie die vorangegangenen Projekte eine
deutsch/europäisch-russische Erfolgsgeschichte. PK-4 ist eine Kooperation der
europäischen Weltraumorganisation ESA und der russischen Raumfahrtbehörde
ROSKOSMOS, mit wissenschaftlicher Führung der Gruppe "Komplexe Plasmen" des
DLR-Instituts für Materialphysik im Weltraum (ehemals am Max-Planck-Institut für
extraterrestrische Physik) und der russischen Akademie der Wissenschaften (Joint
Institute for High Temperatures).
Vom CADMOS-Kontrollzentrum im französischen Toulouse aus und zuletzt vom
Deutschen Raumfahrtkontrollzentrum des DLR in Oberpfaffenhofen, erfolgt die
Steuerung der Experimente. PK-4 hat nach Ansicht der Forschenden eindrucksvoll
gezeigt, welches große Potenzial die Forschung mit komplexen Plasmen auf der
Internationalen Raumstation selbst nach zwei Jahrzehnten immer noch hat. Dies
wird auch international so gesehen. Daher diskutiert die Deutsche
Raumfahrtagentur im DLR derzeit gemeinsam mit NASA, ESA, ROSKOSMOS und den
weltweit führenden Forschungsteams die Möglichkeiten für ein
Nachfolge-Experiment von PK-4 mit dem Namen "COMPACT".
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