Die Universalität des freien Falls
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie astronews.com
11. Juni 2020
Mithilfe des Pulsars PSR J0337+1715 und von zwei Weißen
Zwergen konnte nun mit hoher Genauigkeit gezeigt werden, dass sich
Neutronensterne und Weiße Zwerge in einem Schwerefeld mit gleicher
Beschleunigung bewegen. Dies bestätigt eine fundamentale Vorhersage der
allgemeinen Relativitätstheorie und macht es alternativen Gravitationstheorien
deutlich schwerer.

Darstellung des Dreifachsternsystems, das
sich aus dem Pulsar PSR J0337+1715 und zwei
Weißen Zwergen zusammensetzt. Das grüne Netz
verdeutlicht die durch die Massen verursachte
Raumzeitkrümmung. Die Größen und Abstände sind
nicht maßstäblich dargestellt.
Bild: Michael Kramer/MPIfR [Gesamtansicht] |
Der Pulsar PSR J0337+1715 in Richtung des Sternbilds Stier ist ein
Neutronenstern von 1,44 Sonnenmassen, der sich 366 Mal pro Sekunde um die eigene
Achse dreht und dabei einem Leuchtturm gleich regelmäßige Radiopulse in dieser
Frequenz Richtung Erde sendet. Er bildet eine Komponente in einem
außergewöhnlichen Dreifachsternsystem, in gegenseitiger Wechselwirkung mit zwei
weiteren Sternen, beides Weiße Zwerge.
Ein Weißer Zwerg ist ein recht exotisches Objekt, nämlich ein Stern von
ungefähr Erdgröße, aber mit einer Dichte von vielen Hundert Kilogramm pro
Kubikzentimeter in seinem zentralen Bereich. Verglichen mit Weißen Zwergen sind
Neutronensterne aber noch wesentlich extremer. Mit einer Masse größer als die
unserer Sonne zusammengequetscht in einem Gebiet von nur etwas mehr als 20
Kilometer Durchmesser erreichen sie zentrale Dichten von mehr als einer
Milliarde Tonnen im Volumen eines Zuckerwürfels.
Ein Team unter der Leitung von Guillaume Voisin vom Jodrell Bank Centre
for Astrophysics in Großbritannien und dem Observatoire de Paris)
und unter Beteiligung von Paulo Freire, Norbert Wex und Michael Kramer vom
Bonner Max-Planck-Institut für Radioastronomie (MPIfR) sowie Wissenschaftlern
aus mehreren Forschungsinstituten in Frankreich, hat mit dem Nançay-Radioteleskop
in der Sologne-Region in Frankreich die Ankunftszeiten der Radiopulse von PSR
J0337+1715 über einen Zeitraum von acht Jahren genau vermessen. Als Ergebnis
können die Wissenschaftler nun zeigen, dass Neutronensterne und Weiße Zwerge
sich mit einer Genauigkeit von zwei Teilen pro Million mit gleicher
Beschleunigung in einem Schwerefeld bewegen.
Diese fundamentale Eigenschaft, bekannt unter dem Stichwort "Universalität
des freien Falls", bildet die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie von
Albert Einstein. "Die Bestätigung mit dieser Genauigkeit stellt einen der bisher
überzeugendsten Tests überhaupt für Einsteins Theorie dar – und die Theorie
besteht den Test mit Bravour", so Voisin. "Das bedeutet, dass für alternative
Theorien der Schwerkraft, die in Konkurrenz zur allgemeinen Relativitätstheorie
zum Beispiel zur Erklärung der Dunklen Energie vorgeschlagen werden, enge
Grenzen gesetzt werden."
Die Universalität des freien Falls ist eine einzigartige Eigenschaft der
Gravitation. Im Unterschied zu allen anderen Wechselwirkungen in der Natur zieht
die Schwerkraft alle materiellen Objekte mit gleicher Beschleunigung an. Galileo
Galilei hat angeblich eine Reihe unterschiedlich großer Gewichte vom Schiefen
Turm von Pisa aus herunterfallen lassen, um dies zu überprüfen. Später hat Isaak
Newton diesen Sachverhalt als fundamentale Eigenschaft der Gravitation
bezeichnet, ohne es indes näher zu erklären.
Die höchste Genauigkeit bei der Überprüfung der Universalität des freien
Falls konnte bisher mit einem speziell dafür entwickelten Satelliten namens
MICROSCOPE erreicht werden, der vom französischen Centre Nationale d'Études
Spatiales entwickelt wurde. Die kleinen Prüfmassen im Inneren des
Satelliten zeigen eine identische Beschleunigung im Schwerefeld der Erde bis zu
einer Genauigkeit von 1 zu 1014
(oder 1 zu 100 Billionen).
Nach der Veröffentlichung seiner speziellen Relativitätstheorie im Jahr 1905
begann Einstein darüber nachzudenken, wie er seine neue Theorie mit der
Gravitation zusammenbringen könnte, da Newtons Gravitationsgesetz mit dem
Relativitätsprinzip in der speziellen Relativitätstheorie unvereinbar ist. Im
Herbst 1907 kam ihm ein entscheidender Gedanke, dass es einem Beobachter im
freien Fall genauso erscheint, als ob die Gravitation ausgeschaltet worden wäre.
Aufgrund der Universalität des freien Falls wird nämlich alles in seinem Umfeld
auf die gleiche Weise beschleunigt.
Diese einfache aber trotzdem tiefgreifende Erkenntnis brachte Einstein
schließlich dazu, die Gravitation als ein Resultat der gekrümmten Raumzeit
anzusehen, die in gleicher Art auf alle Massen einwirkt und ein Schlüsselkonzept
der allgemeinen Relativitätstheorie darstellt. Er hat diese plötzliche Eingebung
später als "den glücklichsten Gedanken meines Lebens" bezeichnet.
Da Experimente wie der MICROSCOPE-Satellit die Universalität des freien Falls
mit derart hoher Genauigkeit bestätigen konnten, haben die meisten
Gravitationstheorien inklusive der allgemeinen Relativitätstheorie selbst
Einsteins Erkenntnis als Grundvoraussetzung integriert. Das heißt, dass alle
diese Theorien die Gravitation als geometrisches Phänomen beschreiben, das aus
der Krümmung der Raumzeit resultiert. Die anderen Theorien unterscheiden sich
von der allgemeinen Relativitätstheorie nur dadurch, wie die Raumzeit durch die
Massen großer Objekte verbogen wird, was sich durch radioastronomische
Beobachtungen von Neutronensternen besonders gut testen lässt.
Obwohl alle die genannten Theorien vorhersagen, dass kleine Objekte sich mit
identischer Beschleunigung im gleichen Gravitationsfeld bewegen, ist der
Sachverhalt nicht mehr so einfach, wenn es sich statt kleiner Körper um
astronomische Objekte mit großer Masse handelt, die durch die Gravitation selbst
zusammengehalten werden. In diesem Fall vermittelt die allgemeine
Relativitätstheorie das einfachste Bild, dass nämlich die Universalität des
freien Falls auch für solche "selbstgravitierenden" Objekte gilt, während viele
alternative Theorien zur Gravitation Abweichungen von einer universellen
Beschleunigung vorhersagen.
Diese Abweichungen vergrößern sich in der Regel in dem Maß, mit dem die
Raumzeit durch die Masse des Objekts selbst verkrümmt wird. Für Objekte wie die
Erde, die Sonne und selbst weiße Zwergsterne ist das Maß der Raumkrümmung
ziemlich klein. Im Vergleich dazu ist die Raumkrümmung bei Neutronensternen
Millionen bis Billionen mal stärker. In Gravitationstheorien, die eine
Verletzung der Universalität des freien Falls in Bezug auf die Eigengravitation
der Objekte vorhersagen, ist das Ausmaß dieser Verletzung im Fall von
Neutronensternen generell wesentlich stärker als bei allen anderen Objekten.
Im Jahr 2014 entdeckten Radioastronomen, dass der Pulsar PSR J0337+1715
zusammen mit zwei Weißen Zwergen ein Dreifachsternsystem bildet. Dieses System
stellt ein ideales Labor dar, um die Universalität des freien Falls für einen
Neutronenstern zu überprüfen. Durch die systematische Erfassung der Bewegung des
Pulsars aufgrund seiner Radiosignale konnte nun ein hochpräziser Test
durchgeführt werden, der zeigt, ob der Pulsar sich mit der gleichen
Beschleunigung im Gravitationsfeld des äußeren Weißen Zwergs bewegt wie der
benachbarte "innere" Weiße Zwerg.
Der neue Test verbessert frühere Untersuchungen des gleichen Systems in
zweifacher Hinsicht. Zum einen liefert er einen schärferen Grenzwert für einen
Unterschied in der Schwerebeschleunigung zwischen Pulsar und innerem Weißen
Zwerg, zum anderen verwendet er Ergebnisse zu den Eigenschaften von
Neutronensternen, die sich aus der vernichtenden Kollision zweier
Neutronensterne ergeben, die mit den LIGO/VIRGO-Gravitationswellenobservatorien
beobachtet werden konnte. "Der zweite Aspekt ist besonders wichtig in Hinblick
auf die Abgrenzung der allgemeinen Relativitätstheorie zu alternativen
Gravitationstheorien", erklärt Wex.
PSR J0337+1715 zeigt also, dass Einsteins geniale Einsicht auch bei so
extremen Objekten wie Neutronensternen zutrifft, die erst ein halbes Jahrhundert
nach der Veröffentlichung der allgemeinen Relativitätstheorie entdeckt wurden.
"Vielleicht mehr als in allen vorhergehenden Studien zeigt dieses Ergebnis, dass
Einsteins glücklichster Gedanke tatsächlich eine fundamentale Aussage über die
Gravitation und die innere Funktion der Natur darstellt", so Freire.
Die Ergebnisse wurden jetzt in einem Fachartikel in der Zeitschrift
Astronomy & Astrophysics veröffentlicht.
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