Auf der Spur des Rätsels der Materie
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Paul Scherrer Instituts astronews.com
28. Februar 2020
Einem Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ist
es gelungen, den Wert für das elektrische Dipolmoment des Neutrons genauer
einzugrenzen als zuvor. Dabei stellte sich heraus, dass dieser Wert wohl sehr
viel kleiner ist als man bisher angenommen hatte. Kann das Neutron also
nicht mehr helfen, den Materie-Überschuss im Universum zu erklären?
Warum gibt es Materie, wie hier in Form
unzähliger Galaxien? Von einem kleinen
Elementarteilchen erhoffte man sich Antworten.
Bild: NASA, ESA, H. Teplitz und M. Rafelski
(IPAC/Caltech), A. Koekemoer (STScI), R.
Windhorst (Arizona State University) und Z. Levay
(STScI) [Großansicht] |
Beim Urknall entstand sowohl die Materie des Universums als auch die
sogenannte Antimaterie – so zumindest die gängige Theorie. Da sich die beiden
allerdings gegenseitig auslöschen, muss ein Überschuss an Materie entstanden
sein, der bis heute übrig blieb. Die Ursache für diesen Materie-Überschuss ist
eines der großen Rätsel der Physik und Astronomie.
Einen Hinweis auf das dahinterliegende Phänomen hoffen Forschende unter
anderem mithilfe von Neutronen zu finden, den elektrisch ungeladenen
Elementarbausteinen der Atome. Die Vermutung: Hätte das Neutron ein sogenanntes
elektrisches Dipolmoment mit einem messbaren Betrag ungleich null, könnte
dahinter das gleiche physikalische Prinzip stecken, das auch den Überhang an
Materie nach dem Urknall erklären würde.
Die Suche nach dem elektrisches Dipolmoment lässt sich alltagssprachlich
ausdrücken als die Frage, ob das Neutron ein elektrischer Kompass ist oder
nicht. Schon lange ist klar, dass das Neutron ein magnetischer Kompass ist und
auf ein Magnetfeld reagiert, oder im Fachjargon: ein magnetisches Dipolmoment
hat. Sollte das Neutron zusätzlich auch ein elektrisches Dipolmoment haben, wäre
dessen Wert sehr viel geringer – und daher ungleich schwieriger zu messen. Das
haben bereits frühere Messungen anderer Forschungsgruppen ergeben.
Daher mussten die Forschenden am Paul Scherrer Institut PSI bei ihrer
jetzigen Messung das lokale Magnetfeld mit hohem Aufwand sehr konstant halten.
Selbst jeder Lastwagen, der auf der Landstraße neben dem PSI vorbeifuhr, störte
das Magnetfeld in einer für dieses Experiment relevanten Größenordnung und
musste daher aus den Versuchsdaten herausgerechnet werden. Auch die Anzahl der
beobachteten Neutronen musste entsprechend groß sein, um eine Chance zu haben,
ihr elektrisches Dipolmoment zu messen. Am PSI liefen die Messungen daher über
einen Zeitraum von zwei Jahren.
Vermessen wurden sogenannte ultrakalte Neutronen, also Neutronen mit
vergleichsweise langsamer Geschwindigkeit. Alle 300 Sekunden wurde für acht
Sekunden ein Bündel mit über 10.000 Neutronen zum Experiment gelenkt und
untersucht. Insgesamt vermassen die Forschenden 50.000 solcher Bündel. "Das war
selbst für das PSI mit seinen Großforschungsanlagen eine ziemlich umfangreiche
Studie", sagt Philipp Schmidt-Wellenburg, Forscher am
Elektrisches-Dipolmoment-Projekt vonseiten des PSI. "Aber genau das ist
heutzutage nötig, wenn wir nach Physik jenseits des Standardmodells suchen."
Das neue Resultat entstand durch die Zusammenarbeit von Forschenden an 18
Instituten und Hochschulen in Europa und den USA. Die Daten hatten sie an der
Quelle für ultrakalte Neutronen des PSI gesammelt. Die Forschenden hatten dort
über zwei Jahre hinweg Messdaten gewonnen, sie in zwei Teams sehr sorgfältig
ausgewertet und dadurch ein genaueres Ergebnis als je zuvor erhalten. Das
Forschungsprojekt ist Teil der Suche nach sogenannter "neuer Physik", die über
das sogenannte Standard-Modell hinausgeht. Nach dieser wird auch an noch
größeren Anlagen wie dem Large Hadron Collider LHC des CERN gesucht.
"Die Forschung am CERN geht in die Breite und sucht allgemein nach neuen
Teilchen und deren Eigenschaften", erläutert Schmidt-Wellenburg. "Wir dagegen
gehen in die Tiefe, denn wir schauen lediglich eine Eigenschaft eines Teilchens
an, des Neutrons. Dafür aber erreichen wir in diesem Detail eine Genauigkeit,
die der LHC vielleicht erst in 100 Jahren erlangen würde."
"Letztlich", so Georg Bison, der wie Schmidt-Wellenburg Forscher im Labor für
Teilchenphysik am PSI ist, "zeigen verschiedene kosmologische Beobachtungen
Abweichungen vom Standardmodell. Im Labor dagegen hat man sie noch nicht
nachstellen können. Das ist eine der sehr großen Fragen der modernen Physik und
macht unsere Arbeit so spannend."
Mit ihrem neuesten Experiment ist es den Forschenden nicht anders ergangen.
"Auch unser jetziges Ergebnis hat einen Wert für das elektrisches Dipolmoment
ergeben, der zu klein ist, um ihn mit unseren bisherigen Instrumenten zu messen
– der Wert ist zu nahe an Null", so Schmidt-Wellenburg. "Es ist damit also
unwahrscheinlicher geworden, dass das Neutron hilft, den Materie-Überschuss zu
erklären. Aber ganz ausgeschlossen ist es weiterhin nicht. Und in jedem Fall ist
die Wissenschaft am genauen Wert des elektrisches Dipolmoments interessiert, um
zu erfahren, ob sich hierüber neue Physik entdecken lässt."
Daher ist die nächste, noch genauere Messung bereits in Planung. "Als wir im
Jahr 2010 die jetzige Quelle für ultrakalte Neutronen hier am PSI in Betrieb
genommen haben, wussten wir bereits, dass das restliche Experiment ihr noch
nicht gerecht wird. Daher bauen wir derzeit ein entsprechend größeres Experiment
auf", erklärt Bison. Ab 2021, so sehen die PSI-Forschenden vor, soll daran die
nächste Messreihe starten und die jetzige wiederum in ihrer Genauigkeit
übertreffen. "Wir haben in den letzten zehn Jahren sehr viele Erfahrungen
gesammelt und sie für die stetige Optimierung unseres Experiments nutzen können
– sowohl hinsichtlich unserer Neutronenquelle als auch allgemein zur
bestmöglichen Auswertung solch komplexer Daten in der Teilchenphysik", freut
sich auch Schmidt-Wellenburg. "Die jetzige Publikation hat international einen
neuen Standard gesetzt."
Über ihre Ergebnisse berichtet das Teams in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Physical Review Letters erschienen ist.
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