Die Hierarchie der Neutrinomassen
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Universität Mainz astronews.com
27. Februar 2020
Neutrinos sind außerordentlich schwer zu messen und bergen
noch immer so manches Geheimnis. So weiß man etwa bislang nicht, welche der drei
bekannten Neutrinoarten eigentlich die größte Masse aufweist. Eine neue Studie
zeigt nun, dass die künftige Generation von Neutrino-Detektoren schon bald eine
eindeutige Antwort liefern könnte - wenn man ihre Messergebnisse kombiniert.
Künstlerische Darstellung des
Neutrinodetektors IceCube am Südpol.
Bild: IceCube Collaboration [Großansicht] |
Eine der spannendsten Herausforderungen der modernen Physik ist die Ordnung
oder Hierarchie der Neutrinomassen. Eine aktuelle Studie, an der Physiker des
Exzellenzclusters PRISMA⁺ der Johannes Gutenberg-Universität Mainz federführend
beteiligt sind, zeigt nun: Das Rätsel der Neutrino-Massenordnung könnte bereits
in den nächsten Jahren gelöst sein. Denn: Mit der kombinierten
Leistungsfähigkeit zweier neuer, gerade entstehender Neutrino-Experimente – dem
Upgrade des IceCube-Experiments am Südpol und dem Jiangmen
Underground Neutrino Observatory (JUNO) in China – werden die Physiker bald
Zugang zu sehr viel empfindlicheren und sich ergänzenden Messungen der
Neutrino-Massenordnung haben.
Neutrinos werden von natürlichen Quellen – etwa im Sonneninneren und anderen
astronomischen Objekten – aber auch in Kernkraftwerken in riesigen Mengen
erzeugt. Normale Materie – einschließlich unseren Körper – durchdringen sie
jedoch völlig ungehindert. Das macht den Nachweis dieser "Geisterteilchen"
extrem aufwendig und erfordert gewaltige Detektoren, um wenigstens ein paar der
seltenen Reaktionen nachzuweisen.
Neutrinos kommen in drei unterschiedlichen Arten vor – als Elektron-, Myon-
und Tau-Neutrinos. Sie können sich ineinander umwandeln; ein Phänomen, das die
Forschung als Neutrinooszillationen bezeichnen. Aus dem beobachteten
Oszillationsmuster lassen sich auch Rückschlüsse auf die Masse der Teilchen
ziehen. Die Frage, die die Physiker seit Jahren umtreibt, ist: Welches der drei
Neutrinos ist das leichteste, welches das schwerste?
"In der Beantwortung dieser Frage sehen wir einen wichtigen Schritt, um
langfristig Informationen über die Verletzung der Materie-Antimaterie-Symmetrie
im Neutrinosektor gewinnen zu können", erläutert Prof. Dr. Michael Wurm,
Physiker am Exzellenzcluster PRISMA⁺ und am Institut für Physik der Universität
Mainz, der maßgeblich am Aufbau des JUNO-Experiments in China beteiligt ist.
"Deshalb versprechen wir uns davon schlussendlich Antworten auf die Frage,
weshalb sich Materie und Antimaterie nach dem Urknall nicht vollständig
gegenseitig vernichtet haben."
Beide Groß-Experimente nutzen sehr unterschiedliche und komplementäre Wege,
um das Rätsel der Neutrino-Massenordnung zu lösen. "Da liegt es nahe, die
erwarteten Ergebnisse beider Experimente zu kombinieren", erläutert Prof. Dr.
Sebastian Böser, der ebenfalls am Exzellenzcluster PRISMA⁺ und am Institut für
Physik in Mainz an Neutrinos forscht und maßgeblich am IceCube-Experiment
beteiligt ist.
Gesagt, getan: Forscherinnen und Forscher der IceCube- und der
JUNO-Kollaboration haben nun eine kombinierte Analyse ihrer jeweiligen
Experimente durchgeführt. Dazu gingen sie zunächst davon aus, dass jedes
Experiment eine bestimmte Zeit gelaufen war und simulierten dann die
vorhergesagten experimentellen Ergebnisse. Diese Ergebnisse variieren je
nachdem, ob die Neutrino-Massen einer normalen oder umgekehrten (invertierten)
Ordnung folgen.
Als nächstes führten sie einen statistischen Test durch, in dem sie die
simulierten Ergebnisse beider Experimente einer gemeinsamen Analyse unterzogen:
Diese verriet ihnen die Empfindlichkeit dafür, dass beide Experimente kombiniert
die korrekte Ordnung vorhersagen beziehungsweise die falsche Ordnung
ausschließen können. Da die Ergebnisse von JUNO und IceCube sehr
spezifisch von der tatsächlichen Neutrino-Massenordnung abhängen, hatte ihr
kombinierter Test eine sehr viel stärkere Unterscheidungskraft als jedes der
Einzelexperimente: In Kombination können die Experimente so die falsche
Neutrino-Massenordnung innerhalb von drei bis sieben Jahren Messzeit definitiv
ausschließen.
"Das Ganze ist in diesem Fall mehr als die Summe seiner Teile", lautet das
Fazit von Böser. "Es unterstreicht eindrucksvoll die Bedeutung komplementärer
experimenteller Ansätze zur Lösung der verbleibenden Rätsel der Neutrinos." Und
sein Kollege Wurm ergänzt: "Weder das IceCube-Upgrade noch JUNO können
das alleine erreichen – und auch keines der anderen Experimente, die es derzeit
gibt".
IceCube ist der größte Teilchendetektor der Welt. Er wurde im
Dezember 2010 fertiggestellt und sammelt seitdem Daten über Neutrinos aus dem
Weltall. Er besteht aus einem Kubikkilometer Eis und liegt direkt bei der
Amundsen-Scott-Station am geografischen Südpol. An 86 Kabeltrossen sind jeweils
60 Glaskugeln angebracht, die in Tiefen zwischen 1,45 und 2,45 Kilometer
reichen. Diese Kugeln umschließen hochempfindliche Lichtsensoren, die das
bläuliche Tscherenkow-Leuchten auffangen, das bei Neutrino-Reaktionen entsteht.
Zu den bisher 5160 Sensoren kommen mit dem Upgrade weitere 700 neue Sensoren
hinzu, die in sehr engem Abstand an sieben Kabeltrossen befestigt sind. Sie
werden unter dem Zentrum des jetzigen Detektors etwa 1,6 Kilometer tief
installiert.
Der JUNO-Detektor wird aktuell in einem eigens geschaffenen Untergrundlabor
aufgebaut, das in etwa 50 Kilometer Abstand zu zwei Reaktorkomplexen an der
südchinesischen Küste liegt. Die von den Reaktoren ausgesandten Neutrinos werden
anhand kleiner Lichtblitze im Szintillatortarget des Detektors nachgewiesen.
20.000 Tonnen einer mineralölähnlichen Flüssigkeit befinden sich gut abgeschirmt
von äußerer Strahlung in einer 35 Meter durchmessenden Plexiglassphäre im
Zentrum des Detektors, dessen Oberfläche dicht mit Lichtsensoren bestückt ist.
Über ihre Studie berichten die Teams in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Physical Reviews D erschienen ist.
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