Experimente in Schwerelosigkeit sind aufwendig, versprechen
aber einen großen Nutzen für die Forschung: So war es bislang nicht gelungen,
Modelle für eine wichtige Klasse von Durchmischungseffekten experimentell zu
bestätigen, da die Schwerkraft die Effekte immer überlagerte. Nun konnten solche
Experimente auf einer Höhenforschungsrakete durchgeführt und ausgewertet werden.
Sogenannte Reaktions-Diffusions-Fronten entstehen, wenn zwei chemische
Stoffe miteinander reagieren und sich gleichzeitig in einem Raum ausbreiten.
Die Wissenschaft kann damit Probleme in Chemie und Physik, aber auch aus
ganz anderen Bereichen wie etwa der Finanzwelt oder den Sprachwissenschaften
modellieren und besser verstehen, da die zugrundeliegenden mathematischen
Gleichungen dieselben Eigenschaften aufweisen. Komplexer wird es, wenn die
Forschenden diese Reaktionen mit Strömungen kombinieren. Solche Prozesse
sind wichtig für technologische Anwendungen rund um Verbrennungsprozesse,
der Geologie, bei der Herstellung bestimmter Stoffe und der Speicherung von
Kohlendioxid.
Trotz der vielfältigen Anwendungen sind wesentliche Teile dieser Systeme
noch nicht vollständig verstanden. "Bisherige Experimente zur Überprüfung
von Modellen solcher Prozesse sind aufgrund von Auftriebseffekten verzerrt.
Ursache dafür sind Dichteunterschiede zwischen den Reaktionslösungen. Um
dieses Problem zu isolieren, haben wir an Bord einer Höhenforschungsrakete
Experimente in der Schwerelosigkeit durchgeführt. Parallel dazu haben unsere
Partner numerische Simulationen gemacht, um die Bedeutung von
zweidimensionalen Effekten zu zeigen, die in einfachen eindimensionalen
Modellen nicht berücksichtigt werden können", umreißt Dr. Karin
Schwarzenberger vom Institut für Fluiddynamik am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf
(HZDR) kurz die Arbeit ihres Teams.
Das Experiment fand bereits am 1. Oktober 2022 statt – an Bord der
Höhenforschungsrakete TEXUS-57, die vom Esrange Space Center, 40
Kilometer östlich vom schwedischen Kiruna gelegen, startete. Das
Kooperationsprojekt von Airbus Defense & Space, der Europäischen
Raumfahrtagentur ESA und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt
beförderte unter anderem auch das Experimentiermodul des Teams um
Schwarzenberger an den Rand des Weltalls. Das Modul trug drei verschieden
dimensionierte Reaktoren, die aus unterschiedlich eng übereinanderliegenden
Glasscheiben bestehen. "Reaktor" bezeichnet dabei ein Behältnis, das
speziell konstruiert und hergestellt wurde, um darin unter definierten
Bedingungen bestimmte Reaktionen ablaufen lassen zu können.
Die Rakete kam auf eine Höhe von etwa 240 Kilometern. Dabei wurde für
knapp sechs Minuten ein Zustand annähernder Schwerelosigkeit erreicht, in
dem die Forschenden ihre Experimente automatisiert ablaufen ließen –
Experimente, für deren akribische Planung mehrere Jahre notwendig waren. Mit
dem Eintreten der Schwerelosigkeit wurde die Reaktion gestartet. Drei
hochauflösende Kameras filmten die Reaktionsfronten, die sich zwischen zwei
strömenden Flüssigkeiten ausbreiten. Diese Aufnahmen waren es, denen der
ganze Aufwand des Teams galt: Mit ihrer Hilfe können die Forschenden nun
einen ganz bestimmten Durchmischungseffekt von anderen Strömungsphänomenen
trennen.
Strömungen in Flüssigkeitskanälen haben durch die Wandreibung eine
ungleichmäßige Geschwindigkeitsverteilung, die in der Folge den Transport
von gelösten Stoffen und diffundierenden Reaktionspartnern in der
Flüssigkeit beeinflusst. Dieser Diffusionseffekt ist bekannt als
Taylor-Aris-Dispersion, benannt nach den beiden Forschern, die bereits in
den 1950er Jahren das Fundament für ihr Verständnis legten. Um das
Zusammenspiel von Taylor-Aris-Dispersion und Reaktion der Stoffe zu
beschreiben, wurden in theoretischen Arbeiten in der Vergangenheit
unterschiedlich komplexe Modelle vorgeschlagen. Im Hinblick auf Anwendungen
ist es jedoch wichtig abzuschätzen, unter welchen Voraussetzungen die
verschiedenen Modelle angewendet werden können.
Dazu wurden Experimente notwendig, die die Taylor-Aris-Dispersion von
anderen Strömungsphänomenen isolieren können. Auf der Erde ist die
Taylor-Aris-Dispersion vor allem von Auftriebseffekten überlagert, die durch
die Schwerkraft verursacht werden. Bislang haben Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler sich damit beholfen, die Auftriebseffekte durch den Einsatz
von flachen Reaktoren zu minimieren – vollständig gelang das jedoch nie.
Denn es muss immer noch ein gewisser Bereich von Reaktorhöhen und
Strömungsgeschwindigkeiten abgedeckt werden, um viele Anwendungsgebiete zu
erfassen. Doch je größer das Strömungssystem ist, desto stärker wirkt die
Schwerkraft.
In der Schwerelosigkeit konnten die Forschenden diese Einschränkungen nun
überwinden. Der Vergleich mit den Referenzexperimenten am Boden zeigte, dass
bei größeren Reaktorhöhen unter Schwerelosigkeit deutlich weniger
Reaktionsprodukt entsteht. Noch wichtiger waren die Bilddaten der
Reaktionsfronten, die nicht durch die Auftriebseffekte verzerrt wurden. So
konnten die Brüsseler Partner die Entwicklung der Front mit den
verschiedenen theoretischen Modellen nachbilden. Die gemeinsame Auswertung
ergab, dass in sehr flachen Reaktoren mit langsamer Strömung einfache
eindimensionale Modelle verwendet werden können.
Bei größeren Reaktoren oder schnellerer Strömung sind aber
zweidimensionale Modelle mit Taylor-Aris-Dispersion nötig. Innerhalb dieser
Gültigkeitsbereiche können die entsprechenden Korrelationsbeziehungen nun
zur Vorhersage der Produktbildung genutzt werden. Dies findet Anwendung bei
der Auslegung von innovativen Reaktoren, der gezielten Synthese von
Partikeln und dem Flüssigkeitstransport in geologischen Schichten, aber auch
bei der Versorgung von Raumstationen, wo andere Gravitationsbedingungen als
auf der Erde herrschen.
Über die Ergebnisse berichtet das Team nun in einem Fachartikel, der in
der Zeitschrift npj Microgravity erschienen ist.