Materie wie kurz nach dem Urknall
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Goethe-Universität Frankfurt am Main astronews.com
14. November 2023
Nach fünf Jahren Pause wurden mit dem Large Hadron
Collider am CERN wieder Blei-Ionen zur Kollision gebracht. Dabei löste sich
die kollidierende Materie für kurze Zeit in ihre Bestandteile auf und erreichte
so einen Zustand wie das Universum Millionstel Sekunden nach dem Urknall. Die
lange Pause wurde für zahlreiche Verbesserungen genutzt, von denen sich die
Forschung einiges verspricht.
Für das Upgrade wurde der ALICE-Detektor
geöffnet.
Foto: Sebastian Scheid, Goethe-Universität Frankfurt [Großansicht] |
Am 26. September 2023 erklärte das Beschleunigerteam des Europäischen
Kernforschungszentrum CERN in Genf "stabile Blei-Strahl-Konditionen" und läutete
damit die erste Datennahme-Kampagne von Blei-Ionen-Kollisionen seit fünf Jahren
ein. Bis zum späten Abend des 29. Oktober wurden nun Kollisionen von Blei-Ionen
bei der bisher weltweit höchsten Kollisionsenergie von 5,36 Terraelektronvolt
pro zusammenstoßender Kernteilchen (Nukleon-Nukleon-Kollision) erzeugt. Nicht
nur die Kollisionsenergie, sondern auch die Kollisionsraten wurden im Vergleich
zu den Datennahmeperioden der früheren Jahre deutlich erhöht. So konnte der
ALICE-Detektor, spezialisiert auf die Aufzeichnung der Kollisionen von
Bleiatomkernen, 20 Mal mehr Ereignisse aufzeichnen als in den vier einmonatigen
Datennahmeperioden seit 2010 zusammen. Dies ist wichtig, da bei den Kollisionen
in kürzester Zeit ungeheuer viele Teilchen neu entstehen und wieder zerfallen.
Die Aufzeichnung der Spuren dieser Teilchen lässt Rückschlüsse darauf zu, was
im Moment des Zusammenpralls und kurz danach genau passiert: Die Teilchen lösen
sich in ihre elementaren Bestandteile – Quarks und Gluonen – auf und bilden eine
Art "Materiesuppe", ein sogenanntes Quark-Gluon-Plasma. Unmittelbar danach
bilden sich wieder neue, sehr instabile Teilchen, die sich in komplexen
Zerfallsketten schließlich in stabile Teilchen umwandeln. Auf diese Weise
untersuchen die Forschenden des ALICE-Experiments die Eigenschaften von Materie,
wie sie kurz nach dem Urknall vorgelegen hat. An den Experimenten sind
Forschungsgruppen der Goethe-Universität Frankfurt beteiligt.
Der neue Rekord wurde möglich, weil der weltweit stärkste
Teilchenbeschleuniger, der Large Hadron Collider (LHC), in einer
vierjährigen Umbauphase noch einmal verbessert werden konnte. Auch der
ALICE-Detektor wurde dieser Umbaupause von 2018 bis 2022 verbessert, um die
Spuren der höheren Kollisionsraten des LHC aufzeichnen zu können. Hierzu war es
notwendig, die Auslesedetektoren des zentralen Detektors des Experiments, der
sogenannten Spurdriftkammer (engl. "Time Projection Chamber", TPC) komplett
auszutauschen. Die Projektleitung dieses insgesamt zehnjährigen Unterfangens
liegt bei Professor Harald Appelshäuser vom Institut für Kernphysik der
Goethe-Universität.
Eine große Herausforderung sind dabei die enormen Datenmengen, die während
der Messungen anfallen und allein für die TPC im Bereich von Terabyte pro
Sekunde liegen. Dieser Datenstrom muss in Echtzeit mit effektiven
Mustererkennungsmethoden prozessiert werden, um die gespeicherte Menge der Daten
ausreichend reduzieren zu können. Eigens hierzu wurde der Rechencluster EPN
(engl. "Event Processing Nodes") für das Experiment aufgebaut. Der EPN-Cluster
basiert sowohl auf konventionellen Rechenkernen (CPUs) als auch auf speziellen
Grafikprozessoren. Die Leitung des Projekts liegt bei Volker Lindenstruth,
Professor für die Architektur von Hochleistungsrechnern an der
Goethe-Universität und Fellow am Frankfurt Institute for Advanced Studies
(FIAS).
Die Messungen bei höheren Kollisionsraten sind ein großer Erfolg für das
Schwerionenprogramm am CERN. "Endlich geht es los!", freut sich Appelshäuser.
"Darauf haben wir zehn Jahre lang hingearbeitet. Wir freuen uns auf die
Auswertung der jetzt gewonnenen Daten. Danken möchte ich vor allem dem
Bundesministerium für Bildung und Forschung für die langfristige Finanzierung,
denn Forschungsprojekte in dieser Dimension können nur durch einen so
verlässlichen Partner erfolgreich sein."
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