Auf der Suche nach neuer Physik am LHC
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Universität Mainz astronews.com
3. April 2023
Im Rahmen eines neuen, vom Europäischen Forschungsrat
geförderten Projekts soll es erstmals gelingen, subtile Quanteneffekte zu
beschreiben, deren Verständnis wichtig sein wird, um bei den
Beschleuniger-Experimenten am Large Hadron Collider des CERN Hinweise
auf eine neue Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik zu
entdecken.
Blick in den Tunnel des Large Hadron
Collider des CERN in Genf.
Foto:
CERN / Samuel Joseph Hertzog [Großansicht] |
In den letzten Jahren sorgten verschiedene teilchenphysikalische Messungen
für Aufsehen, da sie vielversprechende Hinweise auf eine neue Physik jenseits
des Standardmodells liefern – allen voran das anomale magnetische Moment des
Myons, dessen theoretische Vorhersage signifikant vom gemessenen Wert abweicht.
Auf der anderen Seite ist es bisher noch nicht gelungen, die für diese
Diskrepanz verantwortlichen neuen, schweren Elementarteilchen am Large Hadron
Collider (LHC) des CERN in Genf zu entdecken. Angesichts dieses Dilemmas lautet
die Ausgangsfrage des von Matthias Neubert vorgeschlagenen Forschungsprogramms
mit dem vollständigen Titel "An Effective Field Theory for Non-Global
Observables at Hadron Colliders" (kurz: EFT4jets): Welche Strategie sollte man
von Seiten der Theorie verfolgen, um das Entdeckungspotenzial des LHC als
weltweit leistungsstärkstem Hochenergie-Teilchenbeschleuniger voll
auszuschöpfen?
"In den LHC-Daten könnten sich bereits heute subtile Signale für neue
physikalische Phänomene verbergen. Uns fehlen jedoch die präzisen theoretischen
Methoden, die notwendig wären, sie zu entdecken", erläutert Neubert. In diesem
Zusammenhang zählen sogenannte Jet-Prozesse zu den interessantesten
Beobachtungen. Sie theoretisch zu durchdringen ist daher Ziel des geplanten
Forschungsprogramms. Solche Jets entstehen bei der Kollision von Teilchen bei
höchsten Energien. Sie bestehen aus den Bruchstücken der aufeinanderprallenden
Elementarteilchen – den Quarks und Gluonen – und sind daher besonders spannend
im Zusammenhang mit den grundlegenden Kräften, die bei kleinsten Entfernungen
wirken.
Neue und leistungsfähige theoretische Methoden sind erforderlich, um
Quanteneffekte, die diese Prozesse sowohl im Standardmodell als auch in dessen
Erweiterungen mit neuen Teilchen beeinflussen, vollständig zu kontrollieren.
"Bereits seit 2006 wird vermutet, dass die starke Wechselwirkung zwischen den
kollidierenden Teilchen zu subtilen quantenmechanischen Effekten – der
sogenannten Verschränkung von Quantenteilchen – führt. Ähnliche Effekte
ermöglichen den Quantencomputer und die Quantenteleportation", erklärt Neubert,
"aber es gab es bisher noch keine theoretischen Methoden, mit denen ihr Einfluss
auf die Messdaten von Prozessen an Teilchenbeschleunigern berechnet werden
konnte. Diese Lücke möchte ich mit meinem Forschungsprojekt schließen."
Erste bahnbrechende theoretische Grundlagen zu dem Vorhaben hat Matthias
Neubert 2021 gemeinsam mit Thomas Becher von der Universität Bern und Ding Yu
Shao von der Fudan University in Shanghai in den Physical Review
Letters publiziert. "Wenn wir die Physik hinter diesen Prozessen noch
besser verstehen, versetzt uns das in die Lage, gezielter nach neuen Phänomenen
zu suchen. Wir wissen dann sozusagen, worauf wir achten und nach welchen
Ereignissen wir in den LHC-Experimenten suchen müssen", so Neubert.
Einige Prozesse stehen dabei im Fokus, deren Verständnis von besonders großer
Bedeutung im Hinblick auf die Suche nach neuer Physik ist. Dazu zählen die
Produktion von Higgs-Bosonen und die Suche nach Teilchen der Dunklen Materie,
jeweils in Verbindung mit einem oder mehreren Jets. "Wir werden durch unseren
Ansatz sehr detaillierte Vorhersagen für diese wichtigen Prozesse erhalten.
Unsere neuen Methoden werden genauere Berechnungen als je zuvor ermöglichen,
wodurch das Entdeckungspotenzial des LHC für neue Physik deutlich erhöht wird."
Neubert Matthias Neubert studierte Physik in Siegen und Heidelberg, wo er
1990 promovierte. Nach einem Forschungsaufenthalt an der Stanford University
in den USA wechselte er 1993 als Staff Scientist an das europäische
Forschungszentrum CERN nahe Genf. 1999 folgte er einem Ruf an die Cornell
University in den USA, wo er noch heute als Adjunct Professor tätig ist.
Seit 2006 hat er die Professur für Theoretische Hochenergiephysik an der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) inne. Seit 2012 ist er zudem Sprecher
des Exzellenzclusters PRISMA und des Folgeclusters PRISMA⁺ sowie Direktor des
Mainzer Instituts für Theoretische Physik (MITP).
Mit dem erfolgreichen Antrag für EFT4jets hat Neubert bereits seinen zweiten
ERC Advanced Grant eingeworben. Den ersten Advanced Grant erhielt er im Jahr
2011. Neubert ist einer der meistzitierten theoretischen Physiker Deutschlands.
Seine Forschungsergebnisse sind in über 250 Publikationen und Übersichtsartikeln
erschienen. Neubert ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der
Literatur Mainz und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Dem Mainzer
Publikum ist er auch als Veranstalter der populären Vortragsreihe "Physik im
Theater" bekannt, in der aktuelle Ergebnisse aus der physikalischen
Grundlagenforschung einem breiten Publikum nahegebracht werden. Das Projekt
EFT4jets wird vom Europäischen Forschungsrats mit knapp 2,5 Millionen Euro
gefördert.
ERC Advanced Grants werden an herausragende Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler vergeben, um Projekte durchzuführen, die aufgrund ihres
innovativen Ansatzes als hochriskant gelten, die genau dadurch aber erst neue
Wege im jeweiligen Forschungsfeld eröffnen. Die Förderung erhalten nur
Forscherinnen und Forscher, die bereits bedeutende Errungenschaften vorweisen
können und die seit mindestens zehn Jahren auf international höchstem Niveau
erfolgreich gearbeitet haben. Ausschlaggebend für die ERC-Förderung ist allein
die wissenschaftliche Exzellenz der Forschenden und ihres Forschungsprojekts.
Damit ist ein ERC Grant auch als hohe individuelle Auszeichnung zu verstehen.
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