Ein präzises Thermometer für warme dichte Materie
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf astronews.com
9. Februar 2023
Warme dichte Materie findet sich im Inneren von Sternen und
Planeten. Zum besseren Verständnis dieser Materiezustände versucht die Forschung
diese Form der Materie auch im Labor zu untersuchen. Doch das ist gar nicht so
einfach. Nun hat ein Team eine neues Verfahren entwickelt, das
Temperaturmessungen sehr viel unkomplizierter und präziser erlaubt.
Schema des Aufbaus eines
Trägheitsfusionsexperiments.
Bild:
CASUS / Blaurock [Großansicht] |
Die Beschäftigung mit warmer dichter Materie, kurz "WDM", dient in erster Linie dem
Verständnis von Planeten und Sternen. Sie ist tausende Grad heiß und steht unter
dem Druck tausender Erdatmosphären. Dass die Fachwelt versucht, solche
Materiezustände mit aufwändigen Experimenten auf der Erde nachzustellen, hat
aber auch noch andere Gründe: Neuartige Werkstoffe mit faszinierenden
Eigenschaften sind ebenso denkbar wie bedeutende Fortschritte für die
Trägheitsfusion, einer vielversprechenden Methode der Energiegewinnung.
Im Labor kann warme dichte Materie dank kräftiger Laserblitze aktuell für
Bruchteile von Sekunden erzeugt werden. Die Auswertung dieser Experimente ist
aufwendig und behindert das Verständnis, was warme dichte Materie ist und wie
sie sich verhält. Als wichtige Messmethodik hat sich mittlerweile die
Röntgenstreuung etabliert. Hierbei wird zusätzlich zu jenem Laser, der die warme
dichte Materie erzeugt, ein Röntgenlaser auf die Probe gerichtet. Je nachdem,
wie dessen Licht beim Durchgang durch die Probe gestreut wird, können
Rückschlüsse auf die Eigenschaften des Materials gezogen werden.
Die Auswertung dieser sogenannten Röntgenthomsonstreuung erfolgt entweder
über Simulationen oder über Modelle. Beide Varianten sind allerdings nicht
sonderlich genau, da man immer gewisse Annahmen treffen muss, um an Ergebnisse
zu kommen. Außerdem sind besonders die Simulationen ressourcenintensiv. Für sie
benötigt die Forschung die besten Höchstleistungsrechner der Welt. Dadurch ist
die Auswertung der Experimente ein Flaschenhals für den wissenschaftlichen
Fortschritt.
"Wir zeigen mit unserer Arbeit, dass die Auswertung der Streuungsdaten ohne
Simulationen und ohne Modelle mit all ihren Näherungen und Annahmen möglich
ist", sagt Dr. Tobias Dornheim, Leiter der Nachwuchsgruppe "Frontiers of
Computational Quantum Many-Body Theory" am Center for Advanced Systems
Understanding (CASUS) am Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendor. "Wir
reproduzieren keine Experimente, sondern extrahieren die Temperatur direkt aus
der Messung. Damit reduziert sich der Aufwand, Experimente mit warmer dichter
Materie auszuwerten, um ein Vielfaches. Unsere Methode ist zudem deutlich
präziser als der Rückgriff auf Simulationen und Modelle. Die Interpretation der
Ergebnisse gelingt einfach und unkompliziert."
Dornheim und sein Team greifen
bei ihrem Ansatz auf ein grundlegendes mathematisches Verfahren zurück, die
Laplace-Transformation. Anhand von drei Beispielen zeigen sie auf, dass sie mit
ihrem Ansatz die Temperatur von warmer dichter Materie unverzerrt ermitteln
können. Welche Materialien konkret untersucht werden beziehungsweise von welcher
experimentellen Anlage die Streuungsdaten stammen, ist dabei zweitrangig. Die
vorgeschlagene Eigenschaftsbestimmung, auch Diagnostik genannt, ist universell
anwendbar und benötigt keine Höchstleistungsrechner.
"Dieser neue Ansatz zeigt, dass man manchmal eine
rechenintensive Aufgabe schneller und besser erledigen kann, indem man anders
über das komplexe Problem nachdenkt", sagt Dr. Michael Bussmann,
Gründungsbeauftragter des CASUS. "Diese Publikation steht exemplarisch für den
Weg, den wir mit dem CASUS eingeschlagen haben: die daten-intensive Erforschung
komplexer Systeme über einzelne Disziplinen hinweg neu zu denken." Und Dornheim
ergänzt: "Wir sind
zuversichtlich, dass unser Verfahren von Experimentalphysikern angenommen wird
und ihnen bei der Auswertung ihrer Arbeit hilfreich ist."
Beispielweise könnte die Fusionsforschung profitieren. Hier wird versucht, in
Sternen stattfindende Prozesse auf der Erde nachzubilden. Bei der
Trägheitsfusion wird Brennstoff aus Deuterium und Tritium extrem aufgeheizt und
verdichtet, ein Zwischenzustand ist die warme dichte Materie. Mithilfe der
Röntgenstreuung wird dieser Prozess genau überwacht.
Eine Meldung der National Ignition Facility (NIF) des Lawrence Livermore
National Laboratory in den USA verlieh dem Feld der Trägheitsfusion jüngst
einen kräftigen Schub. So gelang am NIF erstmals eine Fusionszündung, bei der
mehr Energie durch die Fusionsreaktion entstand, als durch die Laser eingetragen
wurde. CASUS-Doktorand Maximilian Böhme forschte über den Jahreswechsel von 2018
zu 2019 sechs Monate an der NIF. "Auch bei den Fusionsexperimenten an der NIF
wird die Temperatur mittels Röntgenstreuung gemessen. Und das Team dort kämpft
mit genau denselben Unzulänglichkeiten verfügbarer Diagnostika. Eine schnelle
und präzise Temperaturermittlung ist definitiv ein entscheidender Baustein, der
die Fusionsenergieforschung einen Riesenschritt nach vorn bringen wird. Genau
diesen Baustein liefern wir jetzt mit unserer Arbeit", schätzt Böhme ein.
Darüber hinaus ist das neue Verfahren für Experimente der Astrophysik
hilfreich, für die die Helmholtz International Beamline for Extreme Fields
am European XFEL genutzt wird. Einige dieser Versuche sollen dabei helfen, die
vielen heute bekannten Planeten außerhalb unseres Sonnensystems besser zu
verstehen und zu prüfen, ob auf einem davon sogar Leben möglich sein könnte.
Dornheim und sein Team wollen nun zeigen, dass die neue Methode Rückschlüsse auf
weitere Eigenschaften warmer dichter Materie über die Temperatur hinaus erlaubt
– und das ebenso unkompliziert und präzise.
Über das Verfahren berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Nature Communications erschienen ist.
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