Erstmals Tetra-Neutron in Beschleuniger nachgewiesen
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Exzellenzclusters Origins astronews.com
27. Juni 2022
60 Jahre lang hatte man danach gesucht, jetzt ist es
erstmals gelungen, einen neutralen Kern, ein sogenanntes Tetra-Neutron, bei
einem Beschleuniger-Experiment in Japan nachzuweisen. Die Ergebnisse des
internationalen Forschungsteams, an dem auch deutsche Forscherinnen und Forscher
beteiligt waren, könnte der Wissenschaft auch mehr über Neutronensterne
verraten.
Master-Student Florian Dufter von der
Technischen Universität München integriert das
Flüssigwasserstofftarget (links) in die von ihm
konstruierte Vakuumkammer des Siliziumdetektors
(rechts).
Bild: R. Gernhäuser / TUM [Großansicht] |
Ein internationales Forschungsteam hat nach 60 Jahren vergeblicher Suche
erstmals einen neutralen Kern entdeckt – das Tetra-Neutron. Der Kollaboration
gelang es, ein isoliertes Vier-Neutronen-System mit geringer kinetischer
Relativenergie in einem Volumen entsprechend eines Atomkerns zu erzeugen. Die
Forschenden überwanden die experimentelle Herausforderung durch den Einsatz
einer neuen Methode: Dabei wurden ein radioaktiver neutronenreicher ⁸He-Strahl
und eine schnelle hochenergetische Reaktion mit einem Proton eingesetzt.
Das Experiment wurde an der Beschleunigeranlage für radioaktive Strahlen
(RIBF) am RIKEN-Forschungszentrum in Japan durchgeführt. Beteiligt an der großen
internationalen Kollaboration waren neben der Technischen Universität München
(TUM) und des Exzellenzclusters ORIGINS auch Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler der TU Darmstadt, des RIKEN Nishina Centers sowie des GSI
Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung in Darmstadt. Das Experiment lieferte
ein zweifelfreies Signal für die erste Beobachtung des Tetra-Neutrons.
Die Bausteine von Atomkernen sind die Nukleonen, die in zwei Arten vorkommen,
den neutralen Neutronen und den positiv geladenen Protonen – den beiden
sogenannten Isospin-Zuständen des Nukleons. Gebundene Kerne, die ausschließlich
aus Neutronen aufgebaut sind, wurden bisher noch nie eindeutig nachgewiesen. Die
einzigen bekannten gebundenen Systeme, die fast ausschließlich aus Neutronen
bestehen, sind Neutronensterne. Dabei handelt es sich um Endstadien der
Sternentwicklung mit einem typischen Durchmesser von etwa zehn Kilometern. Diese
Sterne sind stabil durch die Gravitation, die zu einer sehr hohen
Neutronendichte im Inneren der Sternleichen führt.
Atomkerne wiederum sind durch die starke Wechselwirkung gebunden, mit
Präferenz eine vergleichbare Zahl an Neutronen und Protonen zu binden – das ist
bekannt von den stabilen Kernen, wie sie auf unserer Erde zu finden sind. Die
Erforschung von reinen Neutronen-Systemen ist aber von großer Bedeutung, da sich
nur so experimentelle Erkenntnisse über die Wechselwirkung mehrerer Neutronen
untereinander und damit über die nukleare Wechselwirkung gewinnen lassen. Die
Erforschung der bisher hypothetischen Teilchen könnte zudem helfen, die
Eigenschaften von Neutronensternen besser zu verstehen.
Herauszufinden, ob solche Neutronen-Systeme als Resonanzzustände oder gar
gebundene Kerne vorliegen, ist daher ein seit langem bestehendes Bestreben der
Kernphysik. Das internationale Team von Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern hat dazu nun einen neuen Anlauf genommen und eine neue
experimentelle Methode eingesetzt, die sich von allen bisherigen Versuchen
unterscheidet.
"Dieser experimentelle Durchbruch liefert einen Referenzwert für die Theorie
zum Verständnis der Wechselwirkungen von Isospin-reinen Nukleonen-Verbünden und
damit auch der Eigenschaften neutronenreicher Kerne. Die nukleare Wechselwirkung
zwischen mehr als zwei Neutronen konnte bisher nicht experimentell geprüft
werden, während theoretische Vorhersagen zu sehr verschiedenen Ergebnissen
führen", berichtet Dr. Meytal Duer vom Institut für Kernphysik der TU Darmstadt.
Die experimentelle Untersuchung von reinen Neutronen-Systemen stellt eine
große Herausforderung dar, da es keine Möglichkeit gibt ein Neutronen-Target
herzustellen. Um nun ein Multi-Neutronen-System in einem Volumen zu erzeugen, so
dass die Neutronen untereinander über die kurzreichweitige Kernkraft (wenige
Femtometer, entsprechend 10-15 Meter) in Wechselwirkung treten
können, müssen Reaktionen eingesetzt werden. Dabei besteht die Gefahr, dass die
Neutronen mit anderen Teilchen, die an der Reaktion beteiligt sind, im
Endzustand wechselwirken, was wiederum das eigentliche Signal verändert oder
unsichtbar macht.
Die Forschenden haben diese Schwierigkeit durch den Einsatz eines
hochenergetischen ⁸He-Strahls gelöst. Der ⁸He-Kern besteht aus einem kompakten
Alpha-Teilchen, das von vier Neutronen umgeben wird. Das Alpha-Teilchen wird nun
in einer schnellen Reaktion mit großem Impulsübertrag durch Stoß mit einem
Proton des Flüssigwasserstoff-Targets aus dem ⁸He-Kern herausgeschossen: Die
verbleibenden vier Neutronen sind plötzlich frei und alleine und können
untereinander wechselwirken.
"Nur eine optimale Verbindung unterschiedlicher Faktoren haben die
erfolgreiche Entdeckung des Tetra-Neutrons möglich gemacht. Da ist die geniale
Idee genau die richtige Reaktion zu wählen, die weltweit leistungsfähigste
Anlage für leichte exotische Strahlen, ein Experimentaufbau der genau für diese
Reaktion entwickelt und optimiert wurde, und nicht zuletzt ein Team aus
begeisterten Wissenschaftlern die sich zu 100 Prozent mit der Aufgabe
identifizieren", unterstreicht Dr. Roman Gernhäuser vom Zentralen
Technologielabor am Physik Department der Technischen Universität München aus.
Über die Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Nature erschienen ist.
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