Südpol-Gletscher schmelzen schneller als erwartet
Redaktion
/ Pressemitteilung des DLR astronews.com
31. Januar 2022
Mithilfe spezieller Radardaten haben Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler mehrere kleine Gletscher in der Antarktis untersucht und
dabei eine besorgniserregende Entdeckung gemacht: Die kleinen Gletscher
schmelzen schneller als erwartet. Die neuen Ergebnisse sollten es der
Wissenschaft erlauben, Gletscherprozesse künftig besser zu verstehen.
Foto des Pope-Gletschers, aufgenommen
während der Ice-Bridge-Mission der NASA. Im
Hintergrund erkennt man den Mount Murphy.
Foto: NASA Operation Ice Bridge 2016 [Großansicht] |
Der Südpol hat neue Sorgenkinder. Eine Gruppe von kleineren Gletschern
schmilzt schneller als erwartet: Pope, Smith und Kohler. Bisher standen die
benachbarten Eisgiganten Thwaites und Pine Island im Fokus der Forschung, da sie
sehr fragil sind und den globalen Meeresspiegel um bis zu 1,2 Meter ansteigen
lassen könnten. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat die
Veränderungen in der Westantarktis gemeinsam mit internationalen
Forschungspartnern aufgedeckt und analysiert.
Den Ursachen für die rapiden Abschmelzungen der kleineren Gletscher kamen sie
mithilfe spezieller Radardaten der Satellitenmissionen TanDEM-X und COSMO-SkyMed
auf die Spur. Die gewonnenen Erkenntnisse sind wichtig, um Gletscherprozesse
besser zu verstehen und so die Entwicklung der gesamten Antarktis vorherzusagen.
Klimaforschende können dann künftig noch genauer berechnen, wie stark der
Meeresspiegel ansteigen wird und welche Schutzmaßnahmen am wirkungsvollsten
sind. Die neue Studie ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit von der
University of Houston, dem DLR-Institut für Hochfrequenztechnik und
Radarsysteme, der University of California, der Université Grenoble
Alpes sowie der italienischen Raumfahrtagentur ASI.
Die Gletscher Pope, Smith und Kohler sind in den letzten 30 Jahren deutlich
geschrumpft: Sie sind dünner geworden, haben Schelfeis an den Ozean verloren und
sich weiter ins Land zurückgezogen. Auffällig war hier der Rückgang der
Aufsetzlinie, also die Grenze, an der das Eis den Kontakt zum Festland verliert
und beginnt, auf dem Meer zu schwimmen. Daher richteten die Radar-Expertinnen
und -Experten ein Augenmerk auf diesen Übergangsbereich. So konnten sie auch
erstmals drastische Veränderungen des Pope-Gletschers nachweisen, der sich 2017
innerhalb von nur drei Monaten mit einer Geschwindigkeit von 11,7 Kilometer pro
Jahr zurückzog.
Erdbeobachtungssatelliten sind für die Gletscher- und Klimaforschung
unverzichtbar geworden: "Früher mussten wir jahrelang warten, bis wir endlich
verwertbare Daten zu den Polregionen hatten. Dank der hochleistungsfähigen
Satellitenmissionen TanDEM-X und COSMO-SkyMed können wir die Polregionen heute
im Monatsrhythmus analysieren. Aus den Aufnahmen und mit neuen Methoden zur
Datenauswertung gewinnen wir zudem eine völlig neue Ebene an Details, um
Gletscher- und Klimamodelle weiter zu verbessern", erzählt
DLR-Gastwissenschaftler Prof. Pietro Milillo von der University of Houston im
US-Bundesstaat Texas.
Durch die gezielte Analyse von TanDEM-X-Zeitreihen konnten sie die
Veränderungen sogar im Zwei-Wochen-Takt statt alle vier Wochen nachvollziehen.
Die neue Studie liefert damit ein weiteres wichtiges Puzzleteil für die
Gletscher- und Klimaforschung. Die physikalischen Schmelzprozesse von Pope,
Smith und Kohler laufen ja bei den anderen Gletschern rund um die Amundsen-See
identisch ab. Die Riesen Thwaites und Pine Island könnten mit ihren hohen
Masseverlusten die restliche Westantarktis destabilisieren, mit verheerenden
Folgen für das Leben auf der Erde. Wenn Klimamodelle künftig berücksichtigen,
wie stark eine schwimmende Eisplatte von unten schmilzt, könnten sie auch den
Rückgang von Gletschern noch genauer bestimmen.
Die Unterseite eines Gletschers entzieht sich unseren Blicken, sodass der
Eisverlust nicht direkt messbar ist. Mithilfe von digitalen TanDEM-X-Höhenmodellen
konnten die Wissenschaftler diese verborgene Schmelzrate nun genau bestimmen.
Während zum Beispiel der Smith-Gletscher über Land im Zeitraum von 2011 bis 2019
etwa fünf Meter pro Jahr abschmolz, betrug die Schmelzrate an der frei
schwimmenden Gletscherunterseite ungefähr 22 Meter pro Jahr. An bestimmten
Stellen wies Smith sogar Schmelzraten von mehr als 100 Meter pro Jahr auf, mit
einem Spitzenwert von 140 Meter pro Jahr in 2016.
Einige Untersuchungen mit Klimamodellen bestätigten, dass die
Computerberechnungen der Aufsetzlinie nur dann mit den tatsächlichen Messungen
übereinstimmen, wenn sie die neuen Werte der Schmelzrate mit einkalkulieren.
Darüber hinaus haben die neuen Radardaten und Erkenntnisse den Forschungsverbund
International Thwaites Glacier Collaboration maßgeblich dabei
unterstützt, Messkampagnen vorzubereiten und geeignete Stellen für Testbohrungen
auszuwählen.
"Für die Bestimmung der Abschmelzraten haben wir am DLR zusätzlich mehr als
240 digitale TanDEM-X-Höhenmodelle erzeugt, die die Westantarktis von 2011 bis
2019 hochgenau abbilden", sagt Dr. Paola Rizzoli vom DLR-Institut für
Hochfrequenztechnik und Radarsysteme. Dazu gehört eine eingespielte Produktion:
Das Deutsche Raumfahrtkontrollzentrum ist für den Betrieb von TerraSAR-X und
TanDEM-X verantwortlich und kommandiert die Zwillingssatelliten für die
benötigten Aufnahmen. Aufgezeichnet werden die Radardaten vom Deutschen
Fernerkundungsdatenzentrum an seinen Empfangsstationen in Neustrelitz, Inuvik
(kanadische Arktis) und GARS O’Higgins (Antarktis). Das DLR-Institut für
Methodik der Fernerkundung liefert die Eingangsdaten für die automatisierte
TanDEM-X-Prozessierungskette. Die interferometrische Prozessierung, Geokodierung
und Kalibrierung der TanDEM-X-Aufnahmen wurde am DLR-Institut für
Hochfrequenztechnik und Radarsysteme implementiert und durchgeführt.
Die Spitzenposition Deutschlands im Bereich Radarforschung und
Radartechnologie ermöglicht die Entwicklung einer neuen Generation von
Radarsatelliten, die die dringend benötigten Datengrundlagen für Forschung und
Weltgemeinschaft erweitern. Dadurch können Wissenslücken geschlossen und
Lösungen für globale gesellschaftliche Herausforderungen erarbeitet werden. Die
technischen wie auch wissenschaftlichen Kompetenzen können für künftige
Satellitenmissionen, vor allem im L-Band, weiter ausgebaut werden.
Radarsatelliten mit einem langwelligen Frequenzbereich haben den Vorteil,
dass sie auch durch Vegetation hindurch bis zum Boden blicken können. In den
Polregionen könnte eine Radarmission im L-Band Gletscherstrukturen und
dynamische Prozesse wie das Abschmelzen noch genauer abbilden. Deutschland
könnte hier weiter neue Maßstäbe in der Erdbeobachtung setzen, den globalen
Wandel mit einer neuen Qualität beobachten und wichtige Handlungsempfehlungen
ermöglichen.
Die neue Studie wurde jetzt im Fachjournal Nature Geoscience veröffentlicht.
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