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Manche Galaxien sehen aus wie Quallen - mit einem Körper aus Sternen und Tentakeln aus Gasfilamenten. Aber wie genau haben sich diese Systeme entwickelt? Bei der Beantwortung dieser Frage könnten Simulationen helfen, doch in deren Daten müssen die Quallen-Galaxien erst einmal identifiziert werden. Dabei kann nun jeder helfen.
Um Galaxien, die wie Quallen aussehen, geht es in dem neuen Citizen-Science-Projekt "Quallen-Galaxien" auf der Zooniverse-Plattform. Teilnehmerinnen und Teilnehmer können dabei mithelfen, in einer Computersimulation der Geschichte unseres Kosmos Galaxien zu identifizieren, deren Aussehen dem von Quallen ähnelt. Solche Galaxien haben interessante Wechselwirkungen mit dem Gas eines Galaxienhaufens hinter sich – und das möchte die Arbeitsgruppe von Annalisa Pillepich am Max-Planck-Institut für Astronomie, die das Projekt ins Leben gerufen hat, näher erforschen. Galaxien wie unsere eigene Milchstraßengalaxie, die aus Millionen, Milliarden oder sogar Hunderten von Milliarden Sternen bestehen, sind die Bausteine des Universums auf großen Skalen. Mittlerweile hat die Astronomie ein recht zuverlässiges Gesamtbild davon, wie sich Galaxien in den 13,8 Milliarden Jahren nach der heißen Urknallphase des Universums gebildet haben. Aber eine ganze Reihe von Teilaspekten harren noch der weiteren Forschung – und jeweils dann, wenn neue Beobachtungen und leistungsfähige Simulationen verfügbar werden, gibt es Möglichkeiten, dem Puzzle weitere Teile hinzuzufügen. Ein Bereich des Puzzles, der dringend weitere Teile benötigt, ist der Fall der sogenannten Quallen-Galaxien. Solche Galaxien findet man in Galaxienhaufen, zusammen mit Tausenden von anderen Galaxien. Galaxienhaufen enthalten nicht nur die Galaxien selbst, sondern auch dünnes, heißes intergalaktisches Gas. So gering die Dichte dieses Gases auch ist, reicht sie doch aus, um Galaxien, die sich mit hohen Geschwindigkeiten durch den Haufen bewegen, einen "Fahrtwind" spüren zu lassen.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben das Phänomen so: Stellen Sie sich eine Person auf einem Motorrad vor, deren Haare, oder vielleicht auch ein Schal, nach hinten wehen, während sich das Motorrad mit hoher Geschwindigkeit durch die umgebende Luft bewegt. Galaxien, die sich mit hoher Geschwindigkeit durch einen Galaxienhaufen bewegen, spüren einen ähnlichen Fahrtwind oder "Staudruck". Die Sterne in einer solchen Galaxie sind davon praktisch nicht betroffen. Aber das Gas, das in der Galaxie enthalten ist, kann durch den Staudruck aus der Galaxie "herausgeweht" werden. Übrig bleibt eine Galaxie, die ähnlich wie eine Qualle aussieht: ein Körper (bestehend aus den Sternen der Galaxie) mit Tentakeln (Gas), die entgegen der Bewegungsrichtung aus der Galaxie herausgeweht worden sind. Wie das im Detail funktioniert, haben die Astronominnen und Astronomen allerdings noch nicht verstanden: Bilden sich solche Quallen-Galaxien nur in den massereichsten Galaxienhaufen, oder könnten sie beispielsweise auch um unsere eigene Milchstraße herum entstehen? Wo und wie schnell bilden sich die Schweife und wie lange bleiben sie erhalten? Was passiert mit dem Gas in diesen Schweifen? Wie wirkt sich das "Herauswehen" des Gases auf die Galaxien selbst aus? Die physikalischen Prozesse, um die es geht, laufen über Hunderte von Millionen oder sogar Milliarden von Jahren hinweg ab. Wir können sie im Universum also nicht in Echtzeit beobachten. Aber die Forschung kann mithilfe von Computersimulationen herausfinden, was da passiert. Für kosmologische Simulationen wird im Computer ein virtuelles Universum programmiert, das denselben physikalischen Gesetzen folgt wie unser eigenes. In diesem Modelluniversum entstehen dann virtuelle Sterne und Galaxien, wechselwirken miteinander und entwickeln sich weiter – und für jede Galaxie in jenem Modelluniversum kann man ihre komplette Geschichte rekonstruieren. Ein Hauptproblem dabei sind die sehr unterschiedlichen Größenskalen. Die Physik der Sternentwicklung spielt sich auf Skalen von Tausenden von Kilometern ab. Ein halbwegs repräsentatives Volumen des Kosmos ist allerdings Hunderte von Millionen Lichtjahren groß, also um einen Faktor von einer Quintillion (eine eins mit 18 Nullen) größer. Keine Computersimulation hat es bisher geschafft, einerseits ein so großes Volumen und andererseits die Details einzelner Sterne zu simulieren. Aber seit ein paar Jahren gibt es immerhin Simulationen, die es schaffen, Galaxien so detailliert zu modellieren, dass die Simulation den Staudruck in Galaxienhaufen erfassen kann – und damit die Art und Weise, wie Galaxien zu Quallen-Galaxien werden. Die ersten kosmologischen Simulationen, die es geschafft haben, die Entstehung von Quallen-Galaxien zu erfassen, sind Teil eines Projekts namens IllustrisTNG. Es gibt drei verschiedene Versionen der IllustrisTNG-Simulation, jeweils mit unterschiedlichem Gesamtvolumen, unterschiedlich fein modellierten Details ("räumliche Auflösung") und mit tausenden bis hunderttausenden von Galaxien. Die beiden höher aufgelösten Versionen der Simulation, sie heißen TNG50 und TNG100, liefern hinreichend viele Details, um die Entstehung von Quallen-Galaxien nachvollziehen zu können. Doch um simulierte Quallen-Galaxien untersuchen zu können, müssen die Forscherinnen und Forscher herausfinden, welche der zahlreichen Galaxien in ihrem virtuellen Universum überhaupt Quallen-Galaxien sind. Das ist ein Mustererkennungs-Problem: Welche der Galaxien sehen aus wie Quallen, mit zentralem Körper und angehängtem Gas-Schweif? Ein für Computer durchaus schwieriges Problem – für das menschliche Gehirn mit seinen exzellenten Mustererkennungsfähigkeiten dagegen vergleichsweise einfach. Als erstes wollen die Astronominnen und Astronomen deswegen herausfinden: Welche der Galaxien in der Simulation sehen für das menschliche Auge Quallen aus – mit einem "Körper" aus Sternen, an den sich ein Schweif von Gas anschließt? In einer Pilotstudie, die von Kiyun Yun geleitet wurde, einem Doktoranden in der Gruppe, identifizierten die Teammitglieder selbst 800 Quallen-Galaxien unter einer Vorauswahl von 2600 Kandidaten. Aber das ist nur ein Bruchteil der verfügbaren Daten in der Simulation – und alle Daten auf diese Weise in Augenschein zu nehmen, ist mehr, als ein kleines Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bewältigen kann. An dieser Stelle kommt nun das Zooniverse ins Spiel: die weltweit größte und populärste Plattform für Citizen-Science-Projekte, also Vorhaben, bei denen Freiwillige auf ganz unterschiedliche Weise mit ihren Fähigkeiten zur wissenschaftlichen Forschung beitragen können - ohne selbst professionell in der Forschung tätig sein zu müssen. Bei dem neuen Projekt können Freiwillige mit ihren mustererkennenden Gehirnen helfen: 38.000 Bilder auf der Suche nach seltenen Galaxien zu analysieren, ist eine beachtliche Aufgabe, aber gar nicht so schwierig, wenn sich Tausende von Freiwilligen dieser Aufgabe annehmen. Aufbauend auf Vorarbeiten von Yun und einem anderen Gruppenmitglied Elad Zinger, der jetzt an der Hebräischen Universität Jerusalem forscht, hat die Postdoktorandin Gandhali Joshi entsprechend das Zooniverse-Projekt Quallen-Galaxien (auf englisch "Cosmological Jellyfish") angelegt, das jetzt freigeschaltet wurde. Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekommen hier Bilder mit jeweils einer Galaxie in der Bildmitte gezeigt. Jedes dieser Bilder wurde aus den Daten der TNG50- und TNG100-Simulationen erstellt und zeigt eine bestimmte Galaxie, die aus einem zufälligen Winkel betrachtet wird. Ebenfalls zu sehen sind gegebenenfalls weiteres Gas sowie andere Galaxien in der gezeigten Region. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen dann entscheiden: Sieht jene Galaxie wie eine Qualle aus oder nicht? Die Zooniverse-Plattform bietet sowohl eine Anleitung zum Erkennen von Quallen-Galaxien als auch Feedback für einige der ersten klassifizierten Bilder. Aber die (realistisch simulierte) Natur ist nun einmal nicht besonders simpel gestrickt: Es wird daher immer wieder einmal Fälle geben, in denen es schwierig ist, zu entscheiden, ob eine bestimmte Galaxie einer Qualle ähnelt oder nicht. Aber auch in solchen unsicheren Fällen hilft die Einschätzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer weiter. Im Laufe des Zooniverse-Projekts wird jede Galaxie von mindestens zwanzig Bürgerforschenden klassifiziert. So können eindeutige von mehrdeutigen Fällen unterschieden werden. Sobald die Quallen-Galaxien identifiziert sind, wissen die Astronominnen und Astronomen, welche Galaxien in ihrem simulierten Universum sie sich genauer werden ansehen müssen. Die Simulation liefert die komplette Entstehungsgeschichte für jede Galaxie, so dass sich anschließend rekonstruieren lässt, wie jene Quallen-Galaxien entstanden sind, wie sie sich entwickelt haben, um überhaupt wie Quallen auszusehen – und was bei den Galaxien, die nicht wie Quallen aussehen, anders gelaufen ist.
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