Auf der Suche nach den Quallen-Galaxien
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astronomie astronews.com
14. Juni 2021
Manche Galaxien sehen aus wie Quallen - mit einem Körper aus
Sternen und Tentakeln aus Gasfilamenten. Aber wie genau haben sich diese Systeme
entwickelt? Bei der Beantwortung dieser Frage
könnten Simulationen helfen, doch in deren Daten müssen die Quallen-Galaxien
erst einmal identifiziert werden. Dabei kann nun jeder helfen.

Beispiele für Quallen-Galaxien. Solche
Bilder werden den Teilnehmerinnen und Teilnehmern
des neuen Zooniverse-Projekts zur Klassifikation
vorgelegt.
Bild: IllustrisTNG Collaboration [Großansicht] |
Um Galaxien, die wie Quallen aussehen, geht es in dem neuen Citizen-Science-Projekt
"Quallen-Galaxien" auf der Zooniverse-Plattform. Teilnehmerinnen und Teilnehmer
können dabei mithelfen, in einer Computersimulation der Geschichte unseres
Kosmos Galaxien zu identifizieren, deren Aussehen dem von Quallen ähnelt. Solche
Galaxien haben interessante Wechselwirkungen mit dem Gas eines Galaxienhaufens
hinter sich – und das möchte die Arbeitsgruppe von Annalisa Pillepich am
Max-Planck-Institut für Astronomie, die das Projekt ins Leben gerufen hat, näher
erforschen.
Galaxien wie unsere eigene Milchstraßengalaxie, die aus Millionen, Milliarden
oder sogar Hunderten von Milliarden Sternen bestehen, sind die Bausteine des
Universums auf großen Skalen. Mittlerweile hat die Astronomie ein recht
zuverlässiges Gesamtbild davon, wie sich Galaxien in den 13,8 Milliarden Jahren
nach der heißen Urknallphase des Universums gebildet haben. Aber eine ganze
Reihe von Teilaspekten harren noch der weiteren Forschung – und jeweils dann,
wenn neue Beobachtungen und leistungsfähige Simulationen verfügbar werden, gibt
es Möglichkeiten, dem Puzzle weitere Teile hinzuzufügen.
Ein Bereich des Puzzles, der dringend weitere Teile benötigt, ist der Fall
der sogenannten Quallen-Galaxien. Solche Galaxien findet man in Galaxienhaufen,
zusammen mit Tausenden von anderen Galaxien. Galaxienhaufen enthalten nicht nur
die Galaxien selbst, sondern auch dünnes, heißes intergalaktisches Gas. So
gering die Dichte dieses Gases auch ist, reicht sie doch aus, um Galaxien, die
sich mit hohen Geschwindigkeiten durch den Haufen bewegen, einen "Fahrtwind"
spüren zu lassen.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben das Phänomen so:
Stellen Sie sich eine Person auf einem Motorrad vor, deren Haare, oder
vielleicht auch ein Schal, nach hinten wehen, während sich das Motorrad mit
hoher Geschwindigkeit durch die umgebende Luft bewegt. Galaxien, die sich mit
hoher Geschwindigkeit durch einen Galaxienhaufen bewegen, spüren einen ähnlichen
Fahrtwind oder "Staudruck". Die Sterne in einer solchen Galaxie sind davon
praktisch nicht betroffen. Aber das Gas, das in der Galaxie enthalten ist, kann
durch den Staudruck aus der Galaxie "herausgeweht" werden. Übrig bleibt eine
Galaxie, die ähnlich wie eine Qualle aussieht: ein Körper (bestehend aus den
Sternen der Galaxie) mit Tentakeln (Gas), die entgegen der Bewegungsrichtung aus
der Galaxie herausgeweht worden sind.
Wie das im Detail funktioniert, haben die Astronominnen und Astronomen
allerdings noch nicht verstanden: Bilden sich solche Quallen-Galaxien nur in den
massereichsten Galaxienhaufen, oder könnten sie beispielsweise auch um unsere
eigene Milchstraße herum entstehen? Wo und wie schnell bilden sich die Schweife
und wie lange bleiben sie erhalten? Was passiert mit dem Gas in diesen
Schweifen? Wie wirkt sich das "Herauswehen" des Gases auf die Galaxien selbst
aus?
Die physikalischen Prozesse, um die es geht, laufen über Hunderte von
Millionen oder sogar Milliarden von Jahren hinweg ab. Wir können sie im
Universum also nicht in Echtzeit beobachten. Aber die Forschung kann mithilfe
von Computersimulationen herausfinden, was da passiert. Für kosmologische
Simulationen wird im Computer ein virtuelles Universum programmiert, das
denselben physikalischen Gesetzen folgt wie unser eigenes. In diesem
Modelluniversum entstehen dann virtuelle Sterne und Galaxien, wechselwirken
miteinander und entwickeln sich weiter – und für jede Galaxie in jenem
Modelluniversum kann man ihre komplette Geschichte rekonstruieren.
Ein Hauptproblem dabei sind die sehr unterschiedlichen Größenskalen. Die
Physik der Sternentwicklung spielt sich auf Skalen von Tausenden von Kilometern
ab. Ein halbwegs repräsentatives Volumen des Kosmos ist allerdings Hunderte von
Millionen Lichtjahren groß, also um einen Faktor von einer Quintillion (eine
eins mit 18 Nullen) größer. Keine Computersimulation hat es bisher geschafft,
einerseits ein so großes Volumen und andererseits die Details einzelner Sterne
zu simulieren. Aber seit ein paar Jahren gibt es immerhin Simulationen, die es
schaffen, Galaxien so detailliert zu modellieren, dass die Simulation den
Staudruck in Galaxienhaufen erfassen kann – und damit die Art und Weise, wie
Galaxien zu Quallen-Galaxien werden.
Die ersten kosmologischen Simulationen, die es geschafft haben, die
Entstehung von Quallen-Galaxien zu erfassen, sind Teil eines Projekts namens
IllustrisTNG. Es gibt drei verschiedene Versionen der IllustrisTNG-Simulation,
jeweils mit unterschiedlichem Gesamtvolumen, unterschiedlich fein modellierten
Details ("räumliche Auflösung") und mit tausenden bis hunderttausenden von
Galaxien. Die beiden höher aufgelösten Versionen der Simulation, sie heißen
TNG50 und TNG100, liefern hinreichend viele Details, um die Entstehung von
Quallen-Galaxien nachvollziehen zu können.
Doch um simulierte Quallen-Galaxien untersuchen zu können, müssen die
Forscherinnen und Forscher herausfinden, welche der zahlreichen Galaxien in
ihrem virtuellen Universum überhaupt Quallen-Galaxien sind. Das ist ein
Mustererkennungs-Problem: Welche der Galaxien sehen aus wie Quallen, mit
zentralem Körper und angehängtem Gas-Schweif? Ein für Computer durchaus
schwieriges Problem – für das menschliche Gehirn mit seinen exzellenten
Mustererkennungsfähigkeiten dagegen vergleichsweise einfach. Als erstes wollen
die Astronominnen und Astronomen deswegen herausfinden: Welche der Galaxien in
der Simulation sehen für das menschliche Auge Quallen aus – mit einem "Körper"
aus Sternen, an den sich ein Schweif von Gas anschließt?
In einer Pilotstudie, die von Kiyun Yun geleitet wurde, einem Doktoranden in
der Gruppe, identifizierten die Teammitglieder selbst 800 Quallen-Galaxien unter
einer Vorauswahl von 2600 Kandidaten. Aber das ist nur ein Bruchteil der
verfügbaren Daten in der Simulation – und alle Daten auf diese Weise in
Augenschein zu nehmen, ist mehr, als ein kleines Team von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern bewältigen kann.
An dieser Stelle kommt nun das Zooniverse ins Spiel: die weltweit größte und
populärste Plattform für Citizen-Science-Projekte, also Vorhaben, bei denen
Freiwillige auf ganz unterschiedliche Weise mit ihren Fähigkeiten zur
wissenschaftlichen Forschung beitragen können - ohne selbst professionell in der
Forschung tätig sein zu müssen. Bei dem neuen Projekt können Freiwillige mit
ihren mustererkennenden Gehirnen helfen: 38.000 Bilder auf der Suche nach
seltenen Galaxien zu analysieren, ist eine beachtliche Aufgabe, aber gar nicht
so schwierig, wenn sich Tausende von Freiwilligen dieser Aufgabe annehmen.
Aufbauend auf Vorarbeiten von Yun und einem anderen Gruppenmitglied Elad
Zinger, der jetzt an der Hebräischen Universität Jerusalem forscht, hat die
Postdoktorandin Gandhali Joshi entsprechend das Zooniverse-Projekt
Quallen-Galaxien (auf englisch "Cosmological Jellyfish") angelegt, das jetzt
freigeschaltet wurde. Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekommen hier Bilder mit
jeweils einer Galaxie in der Bildmitte gezeigt. Jedes dieser Bilder wurde aus
den Daten der TNG50- und TNG100-Simulationen erstellt und zeigt eine bestimmte
Galaxie, die aus einem zufälligen Winkel betrachtet wird. Ebenfalls zu sehen
sind gegebenenfalls weiteres Gas sowie andere Galaxien in der gezeigten Region.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen dann entscheiden: Sieht jene Galaxie
wie eine Qualle aus oder nicht?
Die Zooniverse-Plattform bietet sowohl eine Anleitung zum Erkennen von
Quallen-Galaxien als auch Feedback für einige der ersten klassifizierten Bilder.
Aber die (realistisch simulierte) Natur ist nun einmal nicht besonders simpel
gestrickt: Es wird daher immer wieder einmal Fälle geben, in denen es schwierig
ist, zu entscheiden, ob eine bestimmte Galaxie einer Qualle ähnelt oder nicht.
Aber auch in solchen unsicheren Fällen hilft die Einschätzung der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer weiter. Im Laufe des Zooniverse-Projekts wird
jede Galaxie von mindestens zwanzig Bürgerforschenden klassifiziert. So können
eindeutige von mehrdeutigen Fällen unterschieden werden.
Sobald die Quallen-Galaxien identifiziert sind, wissen die Astronominnen und
Astronomen, welche Galaxien in ihrem simulierten Universum sie sich genauer
werden ansehen müssen. Die Simulation liefert die komplette
Entstehungsgeschichte für jede Galaxie, so dass sich anschließend rekonstruieren
lässt, wie jene Quallen-Galaxien entstanden sind, wie sie sich entwickelt haben,
um überhaupt wie Quallen auszusehen – und was bei den Galaxien, die nicht wie
Quallen aussehen, anders gelaufen ist.
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