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Große Scheibengalaxien wuchsen schnell
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astronomie astronews.com
22. Mai 2020
Lange Zeit war man davon ausgegangen, dass Scheibengalaxien
wie unsere Milchstraße ihre große Masse relativ spät in der Geschichte des
Universums erreichten. Jetzt wurde mit dem ALMA-Observatorium eine
Scheibengalaxie entdeckt, die bereits vor rund zwölf Milliarden Jahre eine große
Masse aufwies. Entstanden Galaxien also doch anders als vermutet?

Künstlerische Darstellung der Wolfe-Scheibe,
einer massereichen rotierenden Scheibengalaxie im
frühen, staubigen Universum. Die Galaxie wurde
ursprünglich entdeckt, als ALMA das Licht eines
weiter entfernten Quasars (oben links)
untersuchte.
Bild: NRAO / AUI / NSF, S. Dagnello [Großansicht] |
Kurz nach dem Urknall war das Universum gleichförmig und strukturlos – eine
Suppe aus Elementarteilchen. Wie sich in den darauffolgenden 13,8 Milliarden
Jahren die reiche Vielfalt an Strukturen in unserem Kosmos gebildet hat, mit
einer großen Vielzahl von Galaxien und ihren unzähligen Sternen, ist eine der
grundlegenden Fragen der modernen Kosmologie.
Nun hat eine Entdeckung einer Gruppe unter der Leitung von Marcel Neeleman
vom Max-Planck-Institut für Astronomie ein wichtiges neues Puzzlestück gefunden:
Die Astronomen entdeckten eine Scheibengalaxie ähnlich unserer Heimatgalaxie,
der Milchstraße, die bereits 1,5 Milliarden Jahre nach dem Urknall die
beträchtliche Masse von 70 Milliarden Sonnenmassen erreicht hatte. Damals hatte
das Universum lediglich zehn Prozent seines heutigen Alters.
Die Entdeckung liefert ein wichtiges Argument für eine aktuelle Diskussion
über die Entstehung von Galaxien. Dabei werden zwei grundlegend verschiedene
Mechanismen untersucht: ein "Hot Mode"-Szenario, bei dem heißes Gas lange
abkühlen muss, um letztlich eine Scheibe zu bilden, und das neuere "Cold Mode
Accretion"-Szenario, bei dem kühles Gas auf eine neu entstandene Galaxie
geleitet wird, so dass deutlich schneller eine Scheibe entstehen kann. Nur 1,5
Milliarden Jahre nach dem Urknall eine ausgeprägte, massereiche Scheibe zu
finden, zeigt, dass der kalte Entstehungsmodus eine wichtige Rolle bei der
Galaxienentstehung spielen sollte. In dieselbe Richtung hatten vorher bereits
Computersimulationen gewiesen.
Galaxien bilden sich, so die Theorie, innerhalb von Verklumpungen des
kosmischen Netzwerks aus Dunkler Materie, so genannten Halos, die eine deutlich
höhere Dichte als die umgebende Materie aufweisen. Durch ihre Gravitation ziehen
diese Konzentrationen Dunkler Materie auch gewöhnliche Materie an. Aber damit
diese gewöhnliche Materie leuchtende Sterne bildet, und dann auch über große
Entfernungen sichtbar wird, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein.
Sterne entstehen, wenn kleinere Regionen innerhalb einer Wolke aus
molekularem Gas kollabieren und sich erwärmen. Damit das überhaupt geschehen
kann, und damit das Gas überhaupt Moleküle bilden kann, muss das Gas ausreichend
kühl sein – direkt vor der Sternentstehung nur rund zehn Grad Celsius über dem
absoluten Nullpunkt. Unter diesen Bedingungen ist es alles andere als einfach,
dass große Galaxien wie unsere eigene Milchstraße entstehen, mit einer
massereichen Scheibe aus kaltem Gas, in der sich neue Sterne bilden. Eine
wichtige Art und Weise, wie Galaxien wachsen, besteht nämlich darin, dass sie
mit anderen Galaxien kollidieren und verschmelzen.
"Die meisten Galaxien, die wir früh im Universum finden, sehen ziemlich
mitgenommen aus, weil sie bereits eine Reihe von heftigen Verschmelzungsereignissen
hinter sich haben", sagt Neeleman. "Die Aufheizung im Rahmen solcher
Verschmelzungsereignisse erschwert die Entstehung geordnet rotierender Scheiben,
wie wir sie in unserem heutigen Universum beobachten." Wenn bei einer
Galaxienverschmelzung Gaswolken zusammenstoßen, bilden sich sogenannte
Stoßfronten, und das Gas wird unweigerlich erhitzt. Anschließend dauert es
typischerweise einige Milliarden Jahre, bis das Gas so weit abgekühlt ist, dass
sich eine geordnete Gasscheibe bilden kann.
Moderne Simulationen der kosmischen Strukturbildung nutzen Supercomputer, um
Dunkle Materie und Gas über Milliarden von Jahren nach dem Urknall zu verfolgen.
Im Wesentlichen erschaffen sie dabei auf der Grundlage der bekannten
physikalischen Gesetze jeweils ein virtuelles Universum, das es den
Wissenschaftlern erlaubt, alle Phasen der kosmischen Evolution nachzuvollziehen.
Zwei neuere Simulationen, die Auriga-Simulation von Galaxien ähnlich unserer
Milchstraße sowie, in deutlich größerem Maßstab, die detaillierte
TNG50-Simulation, haben die Möglichkeit eines alternativen Entstehungsmodus für
Scheibengalaxien aufgezeigt: Dabei strömt kühles Gas in Galaxien ein, folgt
dabei den Filamenten des Netzwerks aus Dunkler Materie und vermeidet auf diese
Weise die Kollisionen, die das Gas aufheizen würden. Diese sogenannte kühle
Akkretion ermöglicht die Entstehung massereicher Scheibengalaxien zu viel
früheren Zeiten als im Verschmelzungs- und Abkühlungsszenario.
Der direkteste Weg, die Vorhersage aus den Simulationen zu überprüfen,
bestand nun darin, massereiche Scheibengalaxien im frühen Universum zu finden.
Ein solcher Fund wäre mit dem Verschmelzungs-und-Abkühlungs-Szenario nicht
vereinbar, aber wäre dem kühlen Entstehungsmodus nach zu erwarten. Das war die
Motivation für Marcel Neeleman und sein Team, sich auf die Suche nach frühen
Scheibengalaxien zu begeben, also nach Systemen, die in großer Entfernung zu
beobachten sind.
Das Problem ist, dass dies nur mit leistungsstarken Teleskopen möglich ist
und man zudem auch wissen muss, wo das gesuchte Objekt zu finden ist.
Teammitglied J. Xavier Prochaska ist glücklicherweise ein Experte für eine
vielversprechende Suchmethode: Sie nutzt extrem helle, extrem weit entfernte
Quasare; das sind Objekte, deren Leuchtkraft auf Materie zurückgeht, welche auf
das zentrale Schwarze Loch einer Galaxie fällt. Aus der Art und Weise, wie Gas
einen Teil des Lichts des Quasars absorbiert, kann man auf das Vorhandensein und
die Eigenschaften von Gas schließen, das sich zwischen dem fernen Quasar und uns
befindet.
Neeleman und sein Team verwendeten Beobachtungen mit dem ALMA-Observatorium,
einem Array von Dutzenden von Radioteleskopen in Chile, um auf diese Weise sechs
frühe Galaxienkandidaten zu identifizieren, die so weit entfernt waren, dass ihr
Licht rund zehn Milliarden Jahren unterwegs gewesen war, um uns zu erreichen. In
dem dafür nötigen Wellenlängenbereich bietet ALMA unübertroffen hohe Auflösung
und unübertroffen hohe Empfindlichkeit.
Beide Eigenschaften nutzten die Astronomen aus, um das hellste der
Kandidatenobjekte, DLA0817g, genauer zu beobachten. Dabei fanden sie
verräterische Wellenlängenverschiebungen, sogenannte Dopplerverschiebungen, die
zeigten, dass sie es tatsächlich mit einer großen, stabilen, rotierenden Scheibe
zu tun hatten. Weitere Beobachtungen unternahmen die Astronomen mit den
VLA-Radioteleskopen. Aus der Kombination der scheinbaren Größe mit Daten zur
Rotation der Scheibe erschlossen die Forscher die Masse der Scheibe: 70
Milliarden Sonnenmassen.
Die ALMA-Beobachtungen zeigen die Scheibe so, wie sie war, als das Universum
gerade einmal 1,5 Milliarden Jahre alt war, rund 10% seines heutigen Alters. Die
Forscher gaben DLA0817g den Namen "Wolfe-Scheibe", nach dem 2014 verstorbenen
Arthur M. Wolfe, dem ehemaligen Doktorvater von drei der vier Autoren der
Studie. Wolfes langfristiges Forschungsprogramm über die Absorption von
Quasarlicht hatte diese und viele andere Entdeckungen überhaupt erst möglich
gemacht.
Masse und Alter der Wolfe-Scheibe sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass
kühle Gas-Zuflüsse tatsächlich eine bedeutende Rolle in der kosmischen Evolution
gespielt hat – so, wie es die Simulationen Auriga und TNG50 nahegelegt hatten.
Bis man jedoch alle Details versteht, sind allerdings noch weitere Ergebnisse
sowohl aus Simulationen als auch aus Beobachtungen erforderlich. "Wir glauben,
dass die Wolfe-Scheibe in erster Linie durch die stetige Akkretion von kaltem
Gas gewachsen ist", sagt Prochaska: "Eine der noch offenen Fragen ist jedoch,
wie so eine beträchtliche Gasmasse zusammenkommen kann, ohne den relativ
stabilen Zustand der rotierenden Scheibe zu stören".
Eine Galaxie wird nur dann durch ihre Absorption von Quasarlicht nachweisbar
sein, wenn Beobachter, Galaxie und ferner Quasar zufällig genau auf einer Linie
liegen. Solche Ausrichtungen sind bereits für sich genommen selten; wäre die
Wolfe-Scheibe nun außerdem noch selbst ein ungewöhnliches, seltenes Objekt,
würde dies die Unwahrscheinlichkeit der zufälligen Entdeckung noch einmal
erheblich erhöhen. Deutlich wahrscheinlicher ist die Annahme, dass Galaxien wie
die Wolfe-Scheibe im frühen Universum vergleichsweise häufig vorkommen.
"Dass wir die Wolfe-Scheibe mit dieser Methode gefunden haben, legt nahe,
dass derartige Galaxien im frühen Universum recht häufig sein dürften", sagte
Neeleman. "Als unsere neuesten Beobachtungen mit ALMA überraschenderweise
zeigten, dass sie rotiert, zeigte uns das, dass rotierende Scheibengalaxien in
dieser frühen Epoche nicht so selten sind, wie wir gedacht hatten, und dass es
noch viel mehr von ihnen da draußen geben müsste." Auch diese Aussage hoffen die
Astronomen überprüfen zu können, indem sie ihre Suche fortsetzen und weitere
massereiche Scheibengalaxien im frühen Universum ausfindig machen.
Die Ergebnisse wurden jetzt in einem Fachartikel in der Zeitschrift
Nature veröffentlicht.
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