Blick auf die Quellregion des Sonnenwinds
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung astronews.com
25. August 2023
Kleinste Plasmaströme auf der Sonne, die mit hoher Geschwindigkeit von der
Korona ins All rasen, könnten der lang gesuchte Antrieb des Sonnenwindes sein.
Dies ergab die Auswertung von detaillierten Aufnahmen eines koronalen Lochs
durch die Sonde Solar Orbiter. Der Sonnenwind wäre danach zunächst kein
gleichmäßiger Teilchenstrom, sondern würde auf kleinen Skalen unregelmäßig
fluktuieren.
Aufnahmen verschiedener Piko-Flare-Ströme,
die dem Solar Orbiter-Instrument EUI am 30. März 2022 gelungen
sind. Der Bildausschnitt jedes einzelnen Bildes beträgt 6000
mal 6000 Kilometer. Damit die Ströme besser sichtbar sind,
wurde die Helligkeit dieser Aufnahme invertiert. Sie
erscheinen dadurch dunkel.
Bild: ESA / Solar Orbiter / EUI; Science,
Chitta et al. [Großansicht] |
Die Sonne sendet nicht nur Strahlung ins All, sondern auch einen Strom
geladener Teilchen wie etwa Protonen und Elektronen. Dieser Sonnenwind fällt je
nach Aktivität der Sonne mal stärker und mal schwächer aus, kommt jedoch nie
vollständig zum Erliegen. Die schnellsten Teilchen des Sonnenwindes erreichen
Überschallgeschwindigkeiten von mehr als 500 Kilometern pro Sekunde. Ihre
Quellregionen sind koronale Löcher vorzugsweise in der Nähe der Sonnenpole. Auf
Aufnahmen der Sonnenkorona im ultravioletten Licht zeigen sich diese "Löcher"
als dunkle Bereiche. Dort weisen die Feldlinien des Sonnenmagnetfeldes nicht
bogenförmig zurück zur Sonne, sondern ragen in den interplanetaren Raum.
Die Aufnahmen der Raumsonde Solar Orbiter, die das Forscherteam nun
ausgewertet hat, zeigen ein solches koronales Loch in bisher unerreichter
Detailschärfe und mit schneller Bildabfolge. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen am 30.
März 2022 hatte Solar Orbiter den sonnennächsten Punkt seiner stark
elliptischen Umlaufbahn um die Sonne erreicht. Aus einem Abstand von nur etwa 50
Millionen Kilometern blickte die Sonde aus geringerem Abstand auf die
Sonnenkorona, als jeder ihrer Vorgänger.
Etwa eine halbe Stunde lang konnte das Instrument Extreme-Ultraviolet
Imager (EUI), zu dessen Bau und Entwicklung auch
wissenschaftlich-technische Teams des Max-Planck-Instituts für
Sonnensystemforschung (MPS) in Göttingen beigetragen haben, seinen Blick auf ein
koronales Loch in der Nähe des Südpols richten. "Wie genau es der Sonne gelingt,
den Sonnenwind mit hohen Geschwindigkeiten ins All zu beschleunigen, war bisher
unklar. Die einzigartigen Aufnahmen von Solar Orbiter bieten uns die
Möglichkeit, genauer als je zuvor auf die Quellregionen des Sonnenwindes zu
schauen und so diesen Prozess besser als zuvor zu verstehen", erklärt
MPS-Wissenschaftler Dr. Lakshmi Pradeep Chitta, Erstautor der neuen Studie.
In den Aufnahmen findet sich eine Vielzahl kleinster Ströme, die sich mit
Geschwindigkeiten von einigen hundert Kilometern pro Sekunde von der Sonne
fortbewegen. Sie sind etwa 100 Kilometer breit, von langgezogener oder
Y-förmiger Gestalt und recht kurzlebig: nach etwa 20 bis 100 Sekunden verblassen
sie. Auch die Energie, die jeder einzelne Strom transportiert, ist
verhältnismäßig klein: etwa der billionste Teil der Energie, welche die größten
Explosionen im Sonnensystem, Strahlungsausbrüche der Sonne der Kategorie X,
freisetzen. Deshalb sprechen die Forscherinnen und Forscher von Piko-Flare-Strömen.
Für irdische Verhältnisse ist diese Energiemenge dennoch gewaltig: Sie
entspricht etwa der Energiemenge, die 10.000 Haushalte in Deutschland im Laufe
eines Jahres verbrauchen. In der Summe dürften die Mini-Ströme dennoch einen
Großteil der Energie bereitstellen, die erforderlich ist, die Sonnenwindteilchen
auf ihre Überschallreise durchs All zu schicken. "Die Ströme, die wir nun
entdeckt haben, sind zwar klein und treten nur sporadisch auf", so Chitta, "sie
sind aber offenbar ein häufiges Phänomen und in dem betrachteten koronalen Loch
geradezu allgegenwärtig." Auslöser der Piko-Flare-Ströme könnten lokale
Umstrukturierungen des Sonnenmagnetfeldes sein. Von größeren, ähnlich geformten
Strömen ist bekannt, dass sie dort entstehen, wo sich offene und geschlossene
Feldlinien des Sonnenmagnetfeldes treffen, neu anordnen und dabei Energie
freisetzen.
In bisherigen Vorstellungen ist der Sonnenwind ein über große Zeiträume
betrachtet zwar an- und abschwellender, ansonsten aber homogener Teilchenstrom.
Diese Sicht scheint nicht länger haltbar zu sein. Wie Solar Orbiters
zeitlich und räumlich hochaufgelöste Messungen zeigen, nimmt der Sonnenwind
seinen Ursprung offenbar in Gestalt vieler winziger Ströme – ähnlich wie die
meisten Flüsse sich aus einer Vielzahl kleiner Bäche und Nebenarme speisen. "Je
genauer wir mit Solar Orbiter in die Korona der Sonne schauen, desto
mehr finden wir, welch entscheidende Rolle kleinste Strukturen und Prozesse für
das Verständnis unseres Sterns spielen", so Prof. Dr. Hardi Peter vom MPS.
Die Forschenden halten es für möglich, dass sogar noch kleinere Ströme oder
schwächere Strahlungsausbrüche, die auch dem Sonnenspäher der ESA verborgen
bleiben, am Werk sind. Die Forscherinnen und Forscher hoffen nun, im weiteren
Verlauf der Mission mehr über die Piko-Flare-Ströme zu lernen. In den kommenden
Jahren wird Solar Orbiter, die Ebene, in der die Planeten um die Sonne
kreisen, mehr und mehr verlassen und so eine immer bessere Sicht auf ihre
Polregionen – und die dortigen koronalen Löcher – genießen.
Die Ergebnisse des Teams wurden in der Fachzeitschrift Science veröffentlicht.
|