Wie der Sonnenwind beschleunigt wird
Redaktion
/ Pressemitteilung der Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung astronews.com
29. November 2022
Mithilfe von Daten der US-amerikanischen
GEOS-Wettersatelliten hat ein internationales Forschungsteam nun in der
mittleren Korona der Sonne netzartige, dynamische Plasmastrukturen entdeckt und
damit vermutlich einen wichtigen Hinweis auf den Antrieb des Sonnenwindes.
Weitere Erkenntnisse könnten künftige Sonnenmissionen liefern.

Mosaik von Aufnahmen des GOES-Instrumentes
SUVI und des SOHO-Koronographen LASCO vom 17.
August 2018.
Bild: Nature Astronomy, Chitta et al.; GOES /
SUVI; SOHO / LASCO
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Mithilfe von Messdaten der amerikanischen Wettersatelliten GOES hat ein
Forschungsteam unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Sonnensystemforschung
(MPS) einen wichtigen Schritt getan, der Sonne eines ihrer hartnäckigsten
Geheimnisse zu entlocken: Wie gelingt es unserem Stern, den Sonnenwind ins All
zu schleudern? Die Messdaten erlauben einen einzigartigen Blick auf eine
Schlüsselregion in der Sonnenkorona, zu der Forschende bisher kaum Zugang
hatten. Dort hat das Team erstmals ein dynamisches Netz langgezogener,
verwobener Plasmastrukturen sichtbar gemacht. Zusammen mit Daten anderer
Raumsonden und umfangreichen Computersimulationen zeigt sich ein klares Bild:
Dort, wo die langen Fäden des koronalen Netzes wechselwirken, entlädt sich
magnetische Energie – und Teilchen entweichen ins All.
Die Wettersatelliten GOES (Geostationary Operational Environmental Satellites)
der Wetter- und Ozeanographiebehörde (NOAA) der USA haben traditionell anderes
als die Sonne im Sinn. Seit 1974 kreist das Satellitensystem in einer Höhe von
etwa 36.000 Kilometern um unseren Planeten und liefert ununterbrochen
erdbezogene Daten etwa zur Wetter- und Sturmvorhersage. Im Laufe der Jahre wurde
die ursprüngliche Konfiguration um neuere Satelliten erweitert. Die drei
jüngsten Mitglieder der Satellitenfamilie, die derzeit in Betrieb sind, sind
zusätzlich mit Instrumenten ausgestattet, die zur Vorhersage des Weltraumwetters
auf die Sonne schauen. Sie können die ultraviolette Strahlung aus der Korona
unseres Sterns abbilden.
Eine besondere Messkampagne fand im August und September 2018 statt. Ihr Ziel
war es, die ausgedehnte Sonnenkorona abzubilden. Mehr als einen Monat lang
schaute das GOES-Sonneninstrument Solar Ultraviolet Imager (SUVI) nicht
nur so wie sonst direkt auf die Sonne, sondern fing auch Aufnahmen ein, die
seitlich versetzt waren. "Wir hatten die seltene Gelegenheit, das Instrument auf
ungewöhnliche Weise einzusetzen und so eine Region zu beobachten, die noch nicht
wirklich erforscht wurde", sagt Dr. Dan Seaton vom Southwest Research
Institute, der während der Beobachtungskampagne als leitender
Wissenschaftler für SUVI tätig war. "Wir wussten nicht einmal, ob es
funktionieren würde, aber wir wussten, dass wir wichtige Entdeckungen machen
würden, wenn es funktioniert."
Durch Zusammensetzen der Bilder aus den verschiedenen Blickwinkeln ließ sich
das Sichtfeld des Instrumentes deutlich vergrößern und so erstmals die komplette
mittlere Korona, eine Schicht der Sonnenatmosphäre, die 350.000 Kilometer (also
etwa einen halben Sonnenradius) oberhalb der sichtbaren Sonnenoberfläche
beginnt, im ultravioletten Licht abbilden. Andere Raumsonden, welche die Sonne
untersuchen und Daten aus der Korona sammeln, wie etwa die NASA-Sonde Solar
Dynamics Observatory (SDO) oder das Solar and Heliospheric Observatory
(SOHO) von NASA und ESA, blicken in tiefer- oder höherliegende Schichten. "In
der mittleren Korona hatte die Sonnenforschung bisher eine Art blinden Fleck.
Die GOES-Daten sorgen hier für eine deutliche Verbesserung", so Dr. Pradeep
Chitta vom MPS. In der mittleren Korona vermuten Forscherinnen und Forscher
Prozesse, die den Sonnenwind antreiben und modulieren.
Der Sonnenwind ist eines der raumgreifendsten Merkmale unseres Sterns. Der
Strom aus geladenen Teilchen, den die Sonne ins All schleudert, strömt bis an
den Rand unseres Sonnensystems und erzeugt so die Heliosphäre, eine Blase dünnen
Plasmas, das den Einflussbereich der Sonne markiert. Je nach Geschwindigkeit
wird der Sonnenwind in eine schnelle und langsame Komponente unterteilt. Der so
genannte schnelle Sonnenwind, der Geschwindigkeiten von mehr als 500 Kilometern
pro Sekunde erreicht, stammt aus dem Inneren der koronalen Löcher. Das sind
Regionen, die in der ultravioletten Strahlung aus der Korona dunkel erscheinen.
Wo der langsame Sonnenwind seinen Ursprung nimmt, ist unklarer. Doch selbst
diese langsameren Teilchen rasen mit Überschallgeschwindigkeiten von 300 bis 500
Kilometern pro Sekunde durchs All. Diese langsame Komponente des Sonnenwindes
wirft noch immer viele Fragen auf. Mehr als eine Million Grad heißes Plasma aus
der Korona muss der Sonne entkommen, um den langsamen Sonnenwind zu bilden.
Welcher Mechanismus ist hier am Werk? Zudem ist der langsame Sonnenwind nicht
homogen, sondern offenbart zumindest teilweise eine strahlenartige Feinstruktur.
Wo und wie entsteht sie? Diesen Fragen geht die neue Studie nach.
In den GOES-Daten zeigt sich in Äquatornähe eine Region, die das besondere
Interesse der Forscherinnen und Forscher weckte: zwei koronale Löcher, von denen
der Sonnenwind ungehindert fortströmt, in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem
Bereich hoher Magnetfeldstärke. Wechselwirkungen zwischen Systemen wie diesen
gelten als mögliche Ausgangspunkte für den langsamen Sonnenwind. Oberhalb dieser
Region durchziehen langgezogene, radial nach außen weisende Plasmastrukturen die
mittlere Korona.
Als koronales Netz bezeichnet das Autorenteam das Phänomen, das mithilfe der
GOES-Satelliten jetzt erstmals direkt abgebildet wird. Das Netz ist ständig in
Bewegung: Seine langgezogenen Strukturen kreuzen einander und gruppieren sich
um. Eine ähnliche Architektur des Sonnenplasmas kennen Forscherinnen und
Forscher seit Langem aus der äußeren Korona. Aufnahmen aus diesem Bereich im
sichtbaren Licht liefert seit Jahrzehnten der Koronograph LASCO (Large Angle and
Spectrometric Coronagraph) an Bord der Raumsonde SOHO, die im vergangenen Jahr
ihr 25-jähriges Dienstjubiläum feierte.
Die strahlenartigen Ströme in der äußeren Korona deuten Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler als Feinstruktur des langsamen Sonnenwindes, der in der
äußeren Korona seine Reise ins All beginnt. Wie die neue Studie nun
eindrucksvoll zeigt, herrscht diese Feinstruktur bereits in der mittleren Korona
vor. Einfluss des solaren Magnetfeldes Um das Phänomen besser zu verstehen,
wertete das Forscherteam auch Daten weiterer Raumsonden aus: Der
NASA-Sonnenspäher Solar Dynamics Observatory (SDO) ermöglichte den
zeitgleichen Blick auf die Oberfläche der Sonne; die Raumsonde STEREO-A, die
seit 2006 der Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne vorauseilt, bot eine
Perspektive von der Seite.
Mit modernen Berechnungsmethoden, die Beobachtungsdaten von der Sonne
einbeziehen, können Forscherinnen und Forscher mithilfe von Supercomputern
realistische 3D-Modelle des schwer fassbaren Magnetfelds in der Sonnenkorona
erstellen. In dieser Studie verwendete das Team ein modernes
magnetohydrodynamisches Modell, um das Magnetfeld und den Plasmazustand der
Korona für diesen Zeitraum zu simulieren. "Dies hat uns geholfen, die
faszinierende Dynamik, die wir in der mittleren Korona beobachtet haben, mit den
vorherrschenden Theorien über die Entstehung des Sonnenwindes zu verbinden",
sagt Dr. Cooper Downs von Predictive Science Inc., der die Computersimulationen
durchgeführt hat.
Wie die Rechnungen nahelegen, folgen die Plasmastrukturen des koronalen
Netzes dem Verlauf der Magnetfeldlinien. "Wir gehen davon aus, dass sich die
Architektur des Magnetfeldes auf den langsamen Sonnenwind überträgt und eine
wichtige Rolle bei der Beschleunigung der Sonnenwindteilchen ins All spielt", so
Chitta. Demnach fließt das heiße Sonnenplasma in der mittleren Korona entlang
der offenen Magnetfeldlinien des koronalen Netzes. Wo sich die Feldlinien
kreuzen und wechselwirken, wird Energie frei. Viel spricht dafür, dass die
Forscherinnen und Forscher einem grundsätzlichen Phänomen auf der Spur sind. "In
Phasen hoher Sonnenaktivität treten in Äquatornähe koronale Löcher häufig in
unmittelbarer Nachbarschaft zu Gebieten hoher Magnetfeldstärke auf", so Chitta.
"Das koronale Netz, das wir beobachtet haben, dürfte deshalb kein Einzelfall
sein", fügt er hinzu.
Weitere und detaillierte Erkenntnisse erhofft sich das Team von künftigen
Sonnenmissionen. Einige von ihnen wie etwa die für 2024 geplante ESA-Mission
Proba-3 sind mit Instrumenten ausgerüstet, die speziell die mittlere Korona
ins Visier nehmen. Das MPS ist an der Verarbeitung und Auswertung der Daten
beteiligt. Zusammen mit Messdaten von bereits aktiven Sonden wie der Parker
Solar Probe der NASA und dem Solar Orbiter der ESA, die die
Verbindungslinie zwischen Sonne und Erde verlassen, wird so ein besseres
Verständnis der dreidimensionalen Struktur des koronalen Netzes möglich.
Die Ergebnisse wurden in der vergangenen Woche in der Fachzeitschrift
Nature Astronomy publiziert.
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