Entscheidende Sekunde einer Kollision erstmals vollständig simuliert
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik astronews.com
11. Juli 2023
Bei der Kollision von Neutronensternen entstehen nicht nur
Gravitationswellen, sondern auch schwere Elemente. Die genauen Vorgänge dabei
sind allerdings bislang nur wenig verstanden, was auch mit dem ungeheuren
Aufwand zusammenhängt, den entsprechende Simulationen erfordern. Auf einem
Supercomputer wurde nun die entscheidende Sekunde einer Neutronensternkollision
modelliert.
Die ersten Gravitationswellen wurden von zwei
verschmelzenden Neutronensternen empfangen. Die
genauen Vorgänge während der Verschmelzung wurden
nun simuliert. Bild: R.
Hurt / Caltech-JPL [Großansicht] |
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für
Gravitationsphysik in Potsdam und der Universitäten in Kyoto und Toho ist es
erstmals gelungen, in einer langen numerisch-relativistischen Simulation den
gesamten Prozess des einander Umkreisens und Verschmelzens zweier
Neutronensterne zu untersuchen. Bislang waren für solche Doppelsysteme nur
Simulationen möglich, die etwa 0,1 Sekunden des Gesamtprozesses beschreiben. Die
neue Modellierung, an der der japanische Hochleistungs-Computer Fugaku 200 Tage
lang rechnete, bildet eine zehnmal so lange Zeitspanne ab und liefert neue
Erkenntnisse über die Entstehung schwerer Elemente.
Als im August 2017 die Gravitationswellen zweier verschmelzender
Neutronensterne gemessen wurden, war dies eine wissenschaftliche Sensation.
Gleichzeitig begann damit die Multimessenger-Astronomie, die Messergebnisse der
Gravitationswellendetektoren mit Beobachtungen von Teleskopen kombiniert, die
Signale im elektromagnetischen Bereich auffangen. Allerdings ist bis heute nicht
bekannt, was genau während und nach einer solchen Verschmelzung passiert. Um
mehr über Neutronensterne zu erfahren, die bei einem Durchmesser von etwa 20
Kilometern typischerweise 40 Prozent mehr Masse als unsere Sonne besitzen, sind
genaue theoretische Berechnungen nötig, die diese extremen Objekte modellieren.
Die beiden Neutronensterne in der jetzt vorgestellten Modellierung haben 1,2
bzw. 1,5 Sonnenmassen, was mit den Parametern der im August 2017 beobachteten
Verschmelzung übereinstimmt.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erwarten, auch während der kürzlich
begonnenen vierten Messkampagne der Gravitationswellendetektoren verschmelzende
Neutronensterne zu beobachten. Für die Interpretation solcher Signale sind
jedoch verlässliche theoretische Vorhersagen wichtig, wie sie nun zum ersten Mal
vorliegen. "Bislang mussten stets verschiedene Methoden kombiniert werden, um
den kompletten Prozess des Aufeinanderzufallens, des Verschmelzens und die Phase
nach der Verschmelzung zu modellieren", erklärt Kenta Kiuchi, Gruppenleiter in
der Abteilung Numerische und Relativistische Astrophysik am Max-Planck-Institut
für Gravitationsphysik. "Außerdem flossen in frühere Studien sehr viele Annahmen
ein, die nicht immer physikalisch begründet waren. Unsere Untersuchung hingegen
ist selbstkonsistent und geht von nur wenigen Annahmen aus. Es handelt sich um
die erste vollständige Berechnung des gesamten Prozesses, die ein genaues Bild
des Massenauswurfs während und kurz nach der Verschmelzung der beiden
Neutronensterne liefert."
Für die Berechnung wurden 72 Millionen CPU-Stunden auf dem japanischen
Hochleistungs-Computer Fugaku aufgewendet, um eine entscheidende
Sekunde des gesamten Prozesses zu simulieren: die letzten fünf Umkreisungen, die
Verschmelzung selbst und die Phase danach. "Mit dieser langen Simulation haben
wir viel über die Physik der Neutronensternkollisionen gelernt", sagt Masaru
Shibata, Direktor der Abteilung Numerische und Relativistische Astrophysik. "Es
wird immer klarer, dass diejenigen Elemente, die schwerer als Eisen sind,
tatsächlich in solchen extrem energiereichen Prozessen gebildet werden, wenn
während und nach der Verschmelzung Materie aus dem System herausgeschleudert
wird."
Die Forscherinnen und Forscher haben den Massenauswurf aus dem System genau
untersucht und dabei festgestellt, dass ab etwa zehn Millisekunden nach der
Verschmelzung Materie herausgeschleudert wird. Nach 40 Millisekunden erreicht
dieser dynamische Massenauswurf seinen Höhepunkt, flaut dann ab und etwa 300
Millisekunden nach der Verschmelzung wird erneut Materie herausgeschleudert –
diesmal aus dem Torus, der sich während der Verschmelzung gebildet hat. Während
der dynamische Massenauswurf auf die Gezeitenkräfte und schockartige Erhitzung
während der Verschmelzung zurückzuführen ist, konnten die Wissenschaftler jetzt
erstmals selbst-konsistent zeigen, dass das Herausschleudern von Materie nach
der Verschmelzung durch Turbulenzen im Torus entsteht.
Über die Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der jetzt in der
Zeitschrift Physical Review Letters erschienen ist.
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