Im Kernkraftwerk der neuen Physik auf der Spur
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik astronews.com
11. Oktober 2021
Im Kernkraftwerk Brokdorf an der Elbe, das im kommenden Jahr
abgeschaltet werden soll, läuft derzeit ein Experiment, mit dem Forschende
Hinweise auf eine neuartige Physik jenseits des Standardmodells aufspüren
wollen. Jetzt wurden erste Ergebnisse vorgestellt, die für die Eigenschaften
bestimmter vorgeschlagener Teilchen neue präzise Grenzwerte liefern.
Der CONUS-Detektor und seine Lage im
Kernkraftwerk Brokdorf.
Bild: MPIK / PreussenElektra GmbH [Großansicht] |
Es gibt eine ganze Reihe von Gründen dafür, dass das Standardmodell der
Teilchenphysik nicht vollständig ist. Eine sehr interessante Option sind hierbei
neuartige Wechselwirkungen von Neutrinos. Diese extrem schwach wechselwirkenden
Teilchen können Lichtjahre von Blei ungehindert durchdringen und selbst eine
solche neuartige Physik würde nur zu sehr kleinen Effekten führen, die sehr
schwer nachweisbar sind. Das CONUS-Experiment sucht u. a. auch nach diesen
Effekten. Nun hat die CONUS-Kollaboration erste Ergebnisse publiziert, die für
bestimmte theoretische Ideen bereits die weltbesten Grenzen liefern.
Das CONUS-Experiment des Max-Planck-Instituts für Kernphysik hat im April
2018 in enger Zusammenarbeit mit dem Kernkraftwerk der PreussenElektra GmbH in
Brokdorf den Messbetrieb aufgenommen. Es nutzt für die Messungen Antineutrinos,
die im Reaktor als Nebenprodukt entstehen. Der Abstand des experimentellen
Aufbaus, der sich im inneren Sicherheitsbereich der Anlage befindet, zum
Reaktorkern beträgt nur 17 Meter. Dadurch steht ein extrem hoher Fluss von 24
Billionen Neutrinos pro Sekunde und Quadratzentimeter zur Verfügung. Die
Kombination von starker Quelle, einer speziellen Abschirmung gegen Störstrahlung
aus der Umgebung und optimierten Halbleiterdetektoren aus Germanium macht das
Experiment zu einem weltweit führenden Projekt auf diesem Gebiet.
"Das Design der Abschirmung basiert auf der langjährigen Erfahrung des
Max-Planck-Instituts für Kernphysik mit hochreinen Materialien, deren
Radioaktivität mehrere Größenordnungen unterhalb der natürlichen
Umgebungsstrahlung liegt. So konnten wir im inneren Bereich des Reaktors
oberflächennah Bedingungen erreichen, für die man üblicherweise tief unter die
Erde muss, wie zum Beispiel in das Gran Sasso Untergrundlabor", erläutert
Manfred Lindner, Direktor der Abteilung "Teilchen- und Astroteilchenphysik" am
Max-Planck-Institut für Kernphysik. Die jetzt veröffentlichte Studie verwendet
Daten aus Phasen, in denen der Reaktor an- und abgeschaltet war. So lassen sich
die gesuchten Prozesse genauer untersuchen und die Möglichkeiten neuartiger
Physik weiter als bisher einschränken.
Eine Materialeigenschaft des Germaniums, das sogenannte "Quenching",
limitiert bisher die Messgenauigkeit. Die gemessene Ionisationsenergie im
Halbleiterdetektor ist für Stöße der Neutrinos an Atomkernen geringer als von
Elektronen gleicher Energie. Diesen Verlust-Effekt muss man in der Analyse und
Auswertung der Daten entsprechend berücksichtigen. "Deshalb haben wir zum
besseren Verständnis der Daten am Reaktor parallel Messungen an der
Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig durchgeführt, um den
Quenching-Effekt präziser als bisher zu bestimmen", so Werner Maneschg.
"Kombiniert mit weiteren Datensätzen wird dies der CONUS-Kollaboration
erlauben, die Ergebnisse in Zukunft weiter zu verfeinern und die betreffenden
Wechselwirkungen noch genauer unter die Lupe zu nehmen", ergänzt Christian Buck.
Die neuartigen Wechselwirkungen der Neutrinos lassen sich – ähnlich wie die
schwache Kraft im Standardmodell der Teilchenphysik – bei niedrigen Energien als
eine spezielle Art von Wechselwirkungen beschreiben, Theoretikern beschreiben
sie als "effektive vier-Fermi-Wechselwirkungen". Diese sogenannten
NSI-Operatoren kann man weiter nach ihren Eigenschaften bezüglich der Raum-Zeit
klassifizieren.
Die neuen Ergebnisse des CONUS-Experiments liefern nun für einige Modelle die
weltweit engsten Grenzen für neue Physik. Die erzielten Ausschlussbereiche für
NSI-Operatoren entsprechen Grenzen für eine Kombination aus den Massen und
Kopplungsstärken von theoretisch gut motivierten neuartigen Bosonen, also von
Austauschteilchen jenseits des Standardmodells. Für andere Modelle werden
bisherige Ergebnisse bestätigt.
Der in diesem Jahr weiter verbesserte CONUS-Messaufbau nimmt derzeit bei
eingeschaltetem Reaktor Daten bis zum Jahresende. Die 2022 anstehende
Abschaltung des Kraftwerks in Brokdorf erlaubt danach eine sehr sorgfältige
Messung des Untergrunds, sodass die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf
weitere aufschlussreiche Daten aus diesem Experiment hoffen.
Über die Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Journal of High Energy Physics erscheinen soll.
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