Kleiner Detektor für große Aufgaben
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik astronews.com
3. November 2020
Mit dem CONUS-Neutrinodetektor wollen Forschende die
kohärente Streuung von Neutrinos an Atomkernen nachweisen und haben den Detektor
dazu im Kernkraftwerk Brokdorf installiert. Nun konnten sie erstmals eine
Obergrenze dafür bestimmen. Detektoren wie CONUS könnten künftig bei der Suche
nach Dunkler Materie und als Frühwarnsystem für Supernovae eine wichtige Rolle
spielen.

Die vier Germanium-Detektoren von CONUS in
der halboffenen Abschirmung.
Foto: MPIK [Großansicht] |
Beim Stichwort "Neutrinoexperimente" denkt der Experte unweigerlich an
gigantische Detektorsysteme mit vielen Tonnen Material, die notwendig sind, um
diese nur äußerst schwach wechselwirkenden und daher extrem durchdringenden
Elementarteilchen nachzuweisen. Zur Erforschung kosmischer Neutrinos werden gar
ein Kubikkilometer arktisches Inlandeis (IceCube) oder das Wasser der Tiefsee
(ANTARES) genutzt, was eine Milliarde Tonnen entspricht.
Grundsätzlich wechselwirken Neutrinos auf zwei verschiedene Weisen mit
Materie: Entweder mit Elektronen in der Atomhülle oder mit dem aus Protonen und
Neutronen bestehenden Atomkern. Letzterer bietet die Möglichkeit, dass ein
Neutrino "kohärent" mit dem Kern als Ganzes wechselwirkt, was die
Wahrscheinlichkeit eines solchen Streuprozesses ganz erheblich erhöht.
Anschaulich kann man dies mit einem Kegelspiel vergleichen: Ein einzelner
Treffer wirft alle Neune um!
Im Falle kohärenter Streuung wächst die Wahrscheinlichkeit für einen Treffer
mit dem Quadrat der Anzahl der Neutronen im Atomkern. Für das Element Germanium
ergibt sich aufgrund der hohen Anzahl Neutronen im Kern beispielsweise
rechnerisch ein Faktor von etwa 1600. Im Prinzip kann dadurch im Vergleich zu
anderen Neutrino-Wechselwirkungen eine Steigerung bei der kohärenten
Wechselwirkung um bis zu drei Größenordnungen erwartet werden.
Allerdings hat dieser Mechanismus auch einen Nachteil: Für kohärente Streuung
darf die Energie des Neutrinos nicht zu hoch sein - im Bild der Materiewelle
bedarf es einer Wellenlänge des Neutrinos von mindestens der Größenordnung eines
Atomkerns (10-15 m). Das Neutrino
überträgt bei der Streuung dann auch nur sehr wenig Rückstoßenergie auf den
vergleichsweise schweren und somit trägen Atomkern, als würde man mit
Sandkörnern auf einen Lkw schießen. Dementsprechend niedrig muss die
Energieschwelle des Nachweissystems sein. Dafür werden jedoch Neutrinodetektoren
im Kilogramm- statt Tonnen-Maßstab möglich.
Die enormen Anforderungen für ein solches Experiment machten einen
experimentellen Nachweis der theoretischen Vorhersagen aus den 1970er Jahren für
mehr als 40 Jahre unmöglich. 2017 wurde die kohärente Streuung von Neutrinos an
Kernen erstmals im COHERENT-Experiment nachgewiesen. Genauere Messungen, unter
anderem mit niederenergetischen Reaktorneutrinos stehen jedoch noch aus.
Wissenschaftler des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik (MPIK)
haben sich mit dem Projekt CONUS (COherent Neutrino nUcleus Scattering) in
Zusammenarbeit mit dem Kernkraftwerk Brokdorf dieser Herausforderung gestellt.
Ein Kernkraftwerk bietet nämlich ideale Voraussetzungen für ein Experiment zum
Nachweis und Charakterisierung der kohärenten Streuung von Neutrinos an Kernen.
Der Reaktor ist eine sehr starke, kontrollierte Neutrinoquelle, und je näher an
der Quelle man den Detektor aufbauen kann, desto intensiver ist der Fluss.
Mit dem Kernkraftwerk Brokdorf des Betreibers PreussenElektra GmbH hat das
MPIK einen Partner gefunden, der die Forschungsarbeiten des Instituts aktiv
unterstützt und einen Aufbau des Detektors in nur 17 Meter Entfernung vom
Reaktor möglich gemacht hat. So steht ein extrem hoher Fluss von 23 Billionen
Antineutrinos pro Sekunde und Quadratzentimeter aus einem der weltweit stärksten
Reaktoren für Messungen zur Verfügung, ohne den Reaktor in irgendeiner Weise zu
beeinflussen. Die Kombination mit der speziellen Abschirmung und den optimierten
Detektoren macht das Experiment zu einem führenden Projekt auf diesem Gebiet.
Um störende Einflüsse, sogenannte Untergrundereignisse, die von kosmischer
Strahlung und natürlicher Radioaktivität herrühren, zu minimieren, verwendet das
CONUS-Experiment hochreine Halbleiterdetektoren aus Germanium, die von einer
Abschirmung aus mehreren Schichten von höchstreinem Blei und mit Bor beladenem
Polyethylen umgeben sind. Zusätzlich ist der Aufbauort am Reaktor durch Beton
und Wasser gegen kosmische Strahlung abgeschirmt. Der restliche Anteil dieser
Störstrahlung wird mit einem "Veto-System" in Echtzeit detektiert und verworfen.
Ein kohärent streuendes Neutrino erzeugt im Germaniumdetektor eine kleine
Ionisation, die durch ein angelegtes elektrisches Feld abgesaugt und von der
Detektorelektronik verstärkt und aufgezeichnet wird. Aufgrund der sehr kleinen
Rückstoßenergien wurde dazu die Nachweisschwelle der Germaniumdetektoren zu
Rekordwerten abgesenkt. Das Design der Abschirmung und des gesamten
Detektorsystems basiert auf der langjährigen Erfahrung des MPIK, das weltweit
führend auf diesem Gebiet ist.
Nach insgesamt knapp 70 Tagen effektiver Messzeit mit 3,73 Kilogramm aktivem
Detektormaterial liegen nun die ersten Ergebnisse vor. Um den Untergrund zu
bestimmen und genau zu analysieren wurden 16 Tage ohne Reaktorbetrieb genutzt.
Zwar zeigte sich bisher noch kein Signal der gesuchten kohärenten
Neutrinostreuung, es konnte aber die genaueste Obergrenze für die
Wahrscheinlichkeit dieses Streuprozesses bestimmt werden, bei dem Neutrinos mit
einer kinetischen Energie von 10 Millionen Elektronenvolt Rückstöße von 1000
Elektronvolt oder weniger erzeugen. 1 Elektronenvolt entspricht dabei der
Energie eines Photons des sichtbaren Lichts. Mit einer extrem niedrigen
Nachweisschwelle von ca. 300 eV sind die CONUS Detektoren dafür bestens
geeignet.
Diese Obergrenze ist eine wertvolle Information für die
Neutrino-Grundlagenforschung. An erster Stelle werden damit bisherige
Vorhersagen für die Stärke der kohärenten Neutrinostreuung selbst getestet. Aber
auch in der Kosmologie ist diese bei der Suche nach Dunkler Materie von großer
Bedeutung: Mit zunehmender Empfindlichkeit werden Detektorsysteme für Dunkle
Materie auch kohärente Streuung von Neutrinos aus natürlichen Quellen (etwa von
der Sonne) nachweisen, die dann einen störenden Untergrund darstellt, der sich
nicht abstellen lässt.
Die neue Obergrenze lässt bessere Voraussagen zu, wann dieser "neutrino floor"
erreicht wird, für den bisher nur Berechnungen vorliegen. Kleine
Neutrinodetektoren auf der Basis kohärenter Streuung würden auch eine neue Ära
der Neutrinoastronomie eröffnen.
Eine hochinteressante Neutrinoquelle sind Supernovae, jene gigantischen
Explosionen am Ende der Entwicklung sehr massereicher Sterne. Einer sogenannter
Kernkollaps-Supernova geht die Bildung eines Eisenkerns im Zentrum voraus, in
welchem weitere Fusionsprozesse keine Energie mehr freisetzen. Der Kern bricht
schließlich unter seiner eigenen Masse zusammen und wandelt sich in einen
Neutronenstern oder gar in ein Schwarzes Loch um. Die freigesetzte
Gravitationsenergie wird zu 99 Prozent in Form von Neutrinos abgestrahlt. Dies
geschieht bereits einige Stunden, bevor die Supernova optisch sichtbar wird.
1987 leuchtete in der unserer Galaxis benachbarten Großen Magellanschen Wolke
eine Supernova auf – das bisher jüngste Ereignis in unserer näheren kosmischen
Umgebung. Durch Analyse der damals betriebenen Neutrinoexperimente konnten auch
die vorher schon freigesetzten Supernova-Neutrinos nachgewiesen werden. Hierfür
erhielt Masatoshi Koshiba 2002 den Nobelpreis für Physik. Der Kollaps bewirkt
eine so ungeheure Dichte im Zentrum einer Supernova, dass selbst Neutrinos nicht
mehr ungehindert entweichen können. Für die Modellierung dieser Prozesse spielt
kohärente Neutrinostreuung eine zentrale Rolle. Zur Beobachtung einer Supernova
wie 1987A wäre ein Detektor der 100 kg-Klasse ausreichend, hierbei käme die
kohärente Streuung gleich zweifach zum Tragen: Bei der Entstehung und beim
Nachweis. Solche Neutrinodetektoren sind daher ein potenzielles "Frühwarnsystem"
für die Beobachtung von Supernovae.
Eine weitere Eigenschaft kohärenter Neutrinostreuung an Atomkernen ist ihre "Flavour-Unabhängigkeit".
Es gibt drei Sorten ("Flavour") von Neutrinos: elektronisch, myonisch und
tauonisch, die sich ineinander umwandeln können durch sogenannte
Neutrinooszillationen. So werden beispielsweise in Experimenten, die nur
elektronische Neutrinos sehen, nur ca. ein Drittel der solaren Neutrinos
nachgewiesen. Bei einem Nachweis durch kohärente Streuung würde dies keine Rolle
spielen und die Ausbeute wäre entsprechend drei Mal so hoch, was in Kombination
mit Oszillationsexperimenten sehr hilfreich wäre.
Auch für friedliche kerntechnische Anwendungen sind kohärente
Neutrinodetektoren von Interesse: Sie sind klein und mobil und können zur
Überwachung eingesetzt werden: In einem laufenden Reaktor liefern sie
Echtzeitinformationen über die Reaktorleistung – thermische Verzögerungen treten
hier nicht auf.
Mit zusätzlichen Daten und einer optimierten Unterdrückung von
Untergrundereignissen wird die Empfindlichkeit des CONUS-Detektors nun weiter
gesteigert. Weil das erwartete Signal nicht weit von den bisherigen Grenzen ist,
besteht die realistische Möglichkeit, dass CONUS innerhalb der nächsten beiden
Jahre weltweit erstmalig Reaktorneutrinos über den neuen Kanal der kohärenten
Streuung an Atomkernen sehen wird. Ferner ist CONUS modular aufgebaut und kann
daher ohne größere Änderung des Designs erweitert werden.
|