Mit Radioantennen auf Grönland auf Neutrinojagd
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY astronews.com
6. Juli 2021
Auch im grönländischen Eis wird künftig nach Neutrinos
gesucht: Für das Projekt "Radio Neutrino Observatory Greenland" (RNO-G) wurden
auf der Summit Station jetzt die ersten Antennenstationen installiert.
Die Anlage ist der erste Radio-Neutrinodetektor im großen Maßstab. Eine ähnliche
Messnetzwerk soll später auch den Neutrinodetektor IceCube in der
Antarktis ergänzen.
Blick auf die erste Station des
Radio-Neutrino-Observatoriums auf dem
grönländischen Eis. Die roten Fahnen markieren
unterirdische Antennen, die von Solarmodulen
(dunkle Rechtecke) mit Strom versorgt werden.
Foto: RNO-G, Cosmin Deaconu [Großansicht] |
"Neutrinos sind ultraleichte und extrem scheue Elementarteilchen", erläutert
DESY-Physikerin Anna Nelles, die das Projekt mit initiiert hat. "Die Teilchen
entstehen in rauen Mengen im All, vor allem bei energiereichen Prozessen wie
kosmischen Teilchenbeschleunigern. Sie sind aber kaum nachweisbar, weil sie so
gut wie nie mit Materie reagieren. Allein von der Sonne durchqueren pro Sekunde
rund 60 Milliarden Neutrinos unbemerkt jeden fingernagelgroßen Fleck auf der
Erde."
Die ultraleichten Elementarteilchen werden manchmal auch als Geisterteilchen
bezeichnet, denn sie fliegen problemlos durch Wände, die Erde und ganze Sterne.
"Diese Eigenschaft macht sie interessant für die Astrophysik, weil sich mit
ihnen beispielsweise auch ins Innere explodierender Sonnen oder in
verschmelzende Neutronensterne blicken lässt, woher kein Licht zu uns gelangen
kann", berichtet Nelles, die auch Professorin an der Friedrich-Alexander
Universität Erlangen-Nürnberg ist. "Zudem lassen sich mit Neutrinos natürliche
kosmische Teilchenbeschleuniger aufspüren."
Nur extrem selten wechselwirkt ein Neutrino jedoch mit der durchquerten
Materie, wenn es – zum Beispiel im grönländischen Eisschild – zufällig auf ein
Atom stößt. Bei einer solchen seltenen Kollision entsteht eine Lawine von
Folgeteilchen, von denen viele im Gegensatz zum Neutrino elektrisch geladen
sind. Diese geladenen Folgeteilchen erzeugen Radiowellen, die von den Antennen
aufgefangen werden können.
"Der Vorteil von Radiowellen ist, dass Eis für sie ziemlich durchsichtig
ist", erläutert DESY-Physiker Christoph Welling, der zurzeit Teil des
Projektteams auf Grönland ist. "Das heißt, wir können Radiosignale über
Distanzen von einigen Kilometern detektieren." Je höher die Reichweite, desto
größer das Volumen im Eis, das sich überwachen lässt, und desto größer die
Chance, eine der seltenen Neutrinokollisionen aufzuspüren. "RNO-G wird der erste
Radio-Neutrinodetektor im großen Maßstab sein", sagt Welling. Zuvor hatten
kleinere Versuche bereits gezeigt, dass der Nachweis kosmischer Teilchen über
Radiowellen grundsätzlich möglich ist.
Insgesamt 35 Antennenstationen sollen mit einem Abstand von je 1,25
Kilometern rund um die Summit Station auf dem mächtigen grönländischen
Eisschild installiert werden. Trotzdem kann es Monate oder sogar Jahre dauern,
bis der Detektor anschlägt. "In der Neutrinoforschung braucht man Geduld",
erläutert Nelles. "Hochenergetische Neutrinos lassen sich ungemein selten
auffangen. Aber wenn man eines erwischt, dann ist der Informationsgehalt
unglaublich."
Die Forscherinnen und Forscher denken dabei auch schon an den nächsten
Schritt, denn der nächste Radio-Neutrinodetektor soll später buchstäblich am
anderen Ende der Welt aufgebaut werden und das Neutrino-Teleskop IceCube
am Südpol ergänzen. Dort hat ein internationales Konsortium, zu dem auch DESY
gehört, rund 5000 empfindliche optische Messgeräte kilometertief ins ewige Eis
eingeschmolzen. Diese Photomultiplier spähen nach einem schwachen bläulichen
Flackern, das ebenfalls von den energiereichen Folgeteilchen einer seltenen
Neutrinokollision erzeugt wird, wenn diese durchs unterirdische Eis rasen.
Auf diese Weise sind IceCube bereits spektakuläre Beobachtungen von
Neutrinos gelungen, die beispielsweise aus dem Umfeld eines gigantischen
Schwarzen Lochs oder von einem zerrissenen Stern stammten. Die Leuchtsignale der
unterirdischen Folgeteilchen lassen sich im Eis nicht so weit verfolgen wie die
Radiowellen. Dafür schlagen die Photomultiplier bereits bei niedrigeren Energien
der kosmischen Neutrinos an. "Je höher die Energie, desto seltener werden die
Neutrinos. Das heißt, man braucht größere Detektoren", erläutert DESY-Forscherin
Ilse Plaisier aus dem Installationsteam auf Grönland. "Die beiden Systeme
ergänzen sich ideal: Das optische IceCube-Detektorgitter misst etwa bis
zu einer Neutrinoenergie von einer Billiarde Elektronenvolt, das
Radio-Antennenfeld wird ab rund zehn Billiarden bis zu hundert Trillionen
Elektronenvolt empfindlich sein."
Das Elektronenvolt ist eine in der Teilchenphysik weit verbreitete Einheit
der Energie. Hundert Trillionen Elektronenvolt entsprechen etwa der Energie
eines kräftig geschlagenen Squashballs mit 130 Kilometern pro Stunde – aber im
Fall eines Neutrinos konzentriert in einem einzelnen subatomaren Teilchen, das
Trillionen Trillionen Mal leichter ist als ein Squashball.
Die Installationsarbeiten für das Pionier-Projekt laufen in der ersten Phase
noch bis Mitte August und waren in Pandemie-Zeiten eine besondere logistische
Herausforderung: Die Teams mussten vor der Anreise zur Summit Station
an verschiedenen Orten mehrere Wochen in Quarantäne verbringen, um ein
Einschleppen des Coronavirus zu vermeiden.
RNO-G wird mindestens fünf Jahre auf dem grönländischen Eis
stehenbleiben. Die Stationen funktionieren autonom mit Solarzellen und sind per
Mobilfunk untereinander vernetzt. Auf Grundlage dieses Betriebs soll dann der
Neutrinodetektor IceCube am Südpol im Rahmen des Ausbaus zu Generation
2 (IceCube-Gen2) mit Radioantennen erweitert werden. "Der Nachweis von
Radiosignalen von hochenergetischen Neutrinos ist ein sehr vielversprechender
Weg, den zugänglichen Energiebereich deutlich zu vergrößern und damit das neue
Fenster zum Kosmos noch weiter zu öffnen", betont DESYs Direktor für
Astroteilchenphysik, Christian Stegmann. "Wir gehen diesen Weg über erste
Testaufbauten auf Grönland, um dann auch Radioantennen am Südpol als Teil von
IceCube-Gen2 zu installieren."
An dem Pionier-Projekt sind mehr als ein Dutzend Partner beteiligt, darunter
die University of Chicago, die Vrije Universiteit Brussel, die
Penn State University, die University of Wisconsin-Madison und
DESY.
|