Neue Messung bremst Sauerstoffatome
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik astronews.com
15. Dezember 2020
Lange Zeit haben die gemessenen Geschwindigkeiten von
interstellaren Sauerstoffatomen Forschenden Kopfzerbrechen bereitet - sie waren
nämlich so hoch, dass dieses wichtige Element recht einfach die Milchstraße
hätte verlassen können. Nun hat ein Team die Messungen mit einem umfangreichen
Experiment neu kalibriert und den Sauerstoff so quasi ausgebremst.
Der experimentelle Aufbau an der BESSY-II-Synchrotronquelle.
Foto: MPIK [Großansicht] |
Physikerinnen und Physiker haben eine über lange Zeit bestehende Diskrepanz
zwischen den gemessenen Geschwindigkeiten interstellarer Sauerstoffatome und
anderer Elemente in unserer Galaxie behoben: Ein Unterschied von 380 km/s, den
astrophysikalische Messungen der Röntgenabsorption durch Sauerstoffatome
ergaben, hatte den Forschenden erhebliche Kopfschmerzen bereitet. Bei solchen
Geschwindigkeiten könnte sich ein wesentlicher Teil dieses wichtigen Elements im
Prinzip von der galaktischen Scheibe verflüchtigen, da die Fluchtgeschwindigkeit
aus der Milchstraße vom Sonnensystem aus 580 km/s beträgt. Es bestand der
Verdacht auf ein Problem mit den Messungen oder Kalibrierungen, aber man fand
den Grund bislang einfach nicht.
Eine Kollaboration zwischen den Gruppen von Maurice Leutenegger, José Crespo
und Sven Bernitt vom Goddard Space Flight Center der NASA, dem
Max-Planck-Institut für Kernphysik, dem Helmholtz-Institut Jena und anderen
machte sich mit einer miniaturisierten Elektronenstrahl-Ionenfalle ("electron
beam ion trap", kurz EBIT) des MPIK auf den Weg zur BESSY-II-Synchrotronquelle
nach Berlin, um diese Röntgenabsorption von atomarem Sauerstoff im Labor genau
zu messen. Die Apparatur, PolarX-EBIT, kann Ionen in hohen Ladungszuständen, wie
beispielsweise, N6+ oder O6+ mit nur einem oder zwei
Elektronen, ähnlich wie Wasserstoff oder Helium, herstellen.
Hochgeladene Ionen haben Spektrallinien mit Mustern, die denen von Atomen mit
der gleichen Anzahl gebundener Elektronen ähnlich sind, die jedoch energetisch
in den Röntgenbereich übertragen sind. Es ging darum, die sehr genau theoretisch
bekannten Röntgenlinien dieser wasserstoff- und heliumähnlichen Ionen als
Standards für die Energiekalibrierung der Synchrotronstrahlung zu verwenden.
Diese neue Methode könnte die Genauigkeit aller bisher verwendeten
Kalibrierungsmethoden übertreffen.
Eine mit der PolarX-EBIT verbundene Gasabsorptionszelle aus dem NASA-Inventar
ermöglichte es dem MPIK-Doktoranden Steffen Kühn und seinen Teamkollegen, die
zuvor verwendeten Röntgenabsorptionslinien für Gase, wie molekularen Sauerstoff
und Stickstoff, oder atomares Neon gleichzeitig mit den Kalibrierlinien zu
messen. Mit dieser Art von Messaufbau und der hohen Genauigkeit der theoretisch
berechneten Energien für die in der PolarX-EBIT gespeicherten Ionen konnten
viele systematische Unsicherheiten früherer Methoden ausgeschlossen werden.
Die Datenanalyse ergab, dass die Energiewerte der Absorptionslinien von
molekularem Sauerstoff, die in der weltweiten Synchrotron-Community sehr häufig
zur Kalibrierung verwendet werden, um 0,45 eV bei 540 eV, also um fast ein
Promille, falsch lagen. Der neue Wert impliziert eine "Abbremsung" des atomaren
Sauerstoffs im interstellaren Raum unserer Galaxis um 250 km/s, wodurch dieses
Element dann in den "zulässigen" und typischen Bereich von etwa +/− 100 km/s
zurückfällt. Mit der vorgestellten Methode könnten die Unsicherheiten noch
weiter reduziert werden.
Die neuen "Standards" sind bereits so präzise, dass andere bisher unbekannte
Probleme bei der Kalibrierung von Monochromatoren zutage traten. Es ist auch
interessant festzustellen, dass weltraumgestützte Röntgenteleskope bereits
solche Linien hochgeladener Ionen aus kosmischen Quellen als Energiereferenzen
verwenden. Das vorliegende Experiment hat nun die zuvor gröbste Unstimmigkeit
bei interstellarem Sauerstoff beseitigt. In Zukunft wird es dringend benötigte
exakte Röntgenenergiereferenzen nicht nur für die Astrophysik, sondern auch für
die Forschung an Synchrotrons bieten, um den ständig wachsenden Anforderungen an
die Kalibrierung bei vielen Anwendungen gerecht zu werden.
Über ihre Resultate berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Physical Review Letters erschienen ist.
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