Was atomares Wasserstoffgas verrät
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astronomie astronews.com
28. Oktober 2020
Astronominnen und Astronomen haben ein komplexes Netzwerk
aus Filamenten aus atomarem Wasserstoffgas entdeckt, das die Milchstraße
durchdringt. Die Struktur stellt nach ihrer Ansicht einen Abdruck historischer
dynamischer Prozesse dar und ist durch die Rotation der galaktischen Scheibe und
durch Einflüsse von alten Supernova-Explosionen entstanden.
Atomare Wasserstoffemission eines
Ausschnitts aus der THOR-Durchmusterung (oben)
und zugehörige fadenförmige Strukturen um das
Magdalena-Filament (unten). Die Farben stellen
die Emission bei drei Radialgeschwindigkeiten
dar.
Bild: J. Soler et al. 2020 [Großansicht] |
Wasserstoff ist der wichtigste Rohstoff zur Bildung neuer Sterne. Doch obwohl
es das am häufigsten vorkommende chemische Element im Universum ist, ist die
Frage noch offen, wie sich dieses Gas zu Wolken zusammensetzt, aus denen
schließlich Sterne entstehen. Eine Zusammenarbeit von Astronominnen und
Astronomen unter der Leitung von Juan Diego Soler vom Max-Planck-Institut für
Astronomie (MPIA) in Heidelberg hat nun einen wichtigen Schritt zur Beantwortung
dieser Frage gemacht. Soler verarbeitete Daten der vom MPIA geleiteten
THOR-Durchmusterung (THOR steht für "The HI/OH/recombination line survey"), die
aus Beobachtungen mit dem Karl G. Jansky Very Large Array
(VLA)-Radiointerferometer im US-Bundesstaat New Mexico stammen. Die Untersuchung
ermöglicht die Erstellung von Karten der Gasverteilung in der inneren Region der
Milchstraße mit der bisher höchsten räumlichen Auflösung.
"Die neueste Ergänzung des THOR-Datensatzes ist unsere Data Release 2, die
den neutralen atomaren Wasserstoff mit einer Winkelauflösung von 40
Bogensekunden erfasst", erklärt Henrik Beuther, der das THOR-Projekt am MPIA
leitet. "Wir haben die berühmte Spektrallinie des Wasserstoffs bei einer
Wellenlänge von 21 cm verwendet", ergänzt Yuan Wang, der für die Verarbeitung
der Daten verantwortlich war. "Diese Daten liefern gleichzeitig die
Gasgeschwindigkeit in der Beobachtungsrichtung. Kombiniert mit einem Modell, das
beschreibt, wie sich das Gas in der Milchstraßenscheibe um ihr Zentrum dreht,
können wir sogar Distanzen ableiten." Die beispiellose Auflösung der
THOR-Beobachtungen ermöglichte jedoch völlig neue Studien.
Um die Verteilung des atomaren Wasserstoffgases besser zu ermitteln, wandte
Soler einen mathematischen Algorithmus an, der häufig in Anwendungen wie
Texterkennung und Satellitenbildanalyse eingesetzt wird. Dies führte zur
Entdeckung eines ausgedehnten und komplizierten Netzwerks von Filamenten aus
Wasserstoff. Das Team fand heraus, dass die meisten von ihnen parallel zur
Scheibe der Milchstraße verlaufen, einschließlich einer 3000 Lichtjahre langen
Wasserstoff-Spur, die Soler zu Ehren des längsten Flusses in Kolumbien, seinem
Geburtsland, Magdalena nannte.
"Maggie [Magdalena] könnte das größte bekannte zusammenhängende Objekt in der
Milchstraße sein. In den letzten Jahren haben Astronomen viele molekulare
Filamente untersucht, aber Maggie scheint rein atomar zu sein. Aufgrund ihrer
günstigen Position in der Milchstraße konnten wir sie ausfindig machen", erzählt
Jonas Syed, Doktorand am MPIA, der ebenfalls zum THOR-Team gehört.
Es war jedoch eine Ansammlung von vertikalen Filamenten, die die besondere
Aufmerksamkeit der Forscher auf sich zog: "Wie bei dem sich drehenden Pizzateig
erwarteten wir, dass die meisten Filamente parallel zur Ebene liegen und durch
die Rotation gedehnt werden. Aber als wir viele vertikale Filamente um Regionen
fanden, die für ihre hohe Sternentstehungsaktivität bekannt sind, wussten wir,
dass wir auf der richtigen Spur waren. Irgendein Prozess muss Material von der
galaktischen Ebene weggeblasen haben", erklärt Soler.
Massereiche Sterne, also Sterne mit mehr als der achtfachen Masse der Sonne,
tragen durch Winde, ionisierende Strahlung und - am Ende ihres Lebens - durch
Supernova-Explosionen große Energiemengen in ihre Umgebung ein. In der
Vergangenheit haben Astronomen die Beobachtungen des atomaren Wasserstoffs
genutzt, um die Hüllen um Supernova-Explosionen zu identifizieren, die bis zu
ein paar Millionen Jahre alt sind. Die Stoßwellen dieser Explosionen führen
dazu, dass sich das diffuse und allgegenwärtige Wasserstoffgas in dichteren
Wolken anhäuft, von denen die Wissenschaftler annehmen, dass sie die ersten
Schritte im Prozess der Sternentstehung sind.
Doch dieser Fall ist anders. Da die meisten der vertikalen Fäden des atomaren
Wasserstoffs in Regionen mit einer langen Geschichte von Sternentstehung
konzentriert erscheinen, in denen mehrere Generationen von Sternen und
Supernova-Explosionen ihre Umgebung geformt haben, brachten die Forscher sie mit
Ereignissen in Verbindung, die den bereits bekannten Hüllen vorausgingen.
"Höchstwahrscheinlich handelt es sich um die Überreste vieler älterer Hüllen,
die aufplatzten, als sie den Rand der galaktischen Scheibe erreichten, sich über
Millionen von Jahren angesammelt haben und dank der Magnetfelder
zusammengehalten wurden", erläutert Soler.
Das Team gelangte zu dieser Schlussfolgerung durch den Einsatz moderner
numerischer Simulationen der Dynamik von Supernova-Explosionen, Magnetfeldern
und galaktischen Strömungen, die von einer Forschungsgruppe unter der Leitung
von Rowan Smith am Jodrell Bank Centre for Astrophysics in
Großbritannien und Patrick Hennebelle am CEA/Saclay in Frankreich durchgeführt
wurden. Die Ergebnisse und Analysewerkzeuge dieser Studie ermöglichen eine neue
Verbindung zwischen den Beobachtungen und den physikalischen Prozessen, die zur
Ansammlung von Gas führen, das der Entstehung neuer Sterne in der Milchstraße
und anderen Galaxien vorausgeht.
"Galaxien sind komplexe dynamische Systeme, und man findet nur schwer neue
Anhaltspunkte. Archäologen restaurieren Zivilisationen aus den Ruinen von
Städten. Paläontologen setzen alte Ökosysteme aus Dinosaurierknochen zusammen.
Wir rekonstruieren die Geschichte der Milchstraße anhand der Wolken aus atomarem
Wasserstoffgas", so Soler.
Über ihre Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel in der
Zeitschrift Astronomy & Astrophysics. Das "Data Release 2" von THOR
wird in einem weiteren Artikel in Astronomy & Astrophysics beschrieben.
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