Die unbekannten Regionen der Nuklidkarte
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik astronews.com
11. Juli 2018
Kernphysikern ist ein wichtiger Schritt zur Erforschung
bisher unbekannter Atomkerne gelungen: Sie haben die Massen von sechs
neutronenreichen Chrom-Isotopen mit bisher unerreichter Präzision bestimmt. Dies
lieferte wichtige Erkenntnisse zur Stabilität dieser exotischen Kerne, die auch
für astrophysikalische Prozesse bei der Entstehung schwerer Elemente von
Bedeutung sein können.
Nuklidkarte mit farbiger Markierung der
bekannten Kerne nach ihren Zerfallsarten.
Schwarz: stabil, blau/rot: Betazerfall, gelb:
Alphazerfall. Grün schattiert der bislang
unbekannte Bereich.
Bild: MPIK [Großansicht] |
Wissenschaftler des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Kernphysik und des
Instituts für Physik der Universität Greifswald haben in Kollaboration mit
Forschern von mehreren weiteren internationalen Instituten mit dem
Massenspektrometer ISOLTRAP am CERN die Massen von sechs exotischen
Chromisotopen der Massenzahl 58 bis 63 mit hoher Genauigkeit bestimmt. Zusammen
mit neuen theoretischen Rechnungen liefern die Untersuchungen wichtige
Einsichten zum Verständnis des Aufbaus der Atomkerne sowie zur Entstehung der
chemischen Elemente.
Die Nuklidkarte spielt in der Kernphysik eine ähnliche Rolle wie das
Periodensystem der Elemente in der Chemie. Die Eigenschaften eines bestimmten
Atomkerns (Nuklid) sind hauptsächlich durch die Anzahl seiner Bestandteile
(Nukleonen) – Protonen (positiv geladen) und Neutronen (neutral) – und seine
Masse bestimmt. Die Protonenzahl bestimmt das chemische Element, zu dem es eine
jeweils Reihe von Nukliden mit verschiedener Neutronenzahl gibt: die Isotope.
Auf der Nuklidkarte sind alle bekannten Nuklide als Tabelle mit nach oben
zunehmender Protonenzahl und nach rechts zunehmender Neutronenzahl grafisch
dargestellt. Ganz links unten findet sich das einzelne Proton als einfachster
Kern des Wasserstoffatoms. Rechts oben die schwersten (künstlich erzeugten)
Nuklide. Nur ein kleiner Teil der Nuklide ist stabil (schwarz); diese befinden
sich im "Tal der Stabilität", das für schwerere Kerne einen zunehmenden
Neutronenüberschuss aufweist. Alle anderen unterliegen als Radionuklide
verschiedenen radioaktiven Zerfällen (farbig hervorgehoben).
Derzeit kennt man insgesamt etwa 3300 Nuklide. Davon sind 253 stabil,
gut 80 Radionuklide kommen auf der Erde natürlich vor, alle anderen wurden
künstlich erzeugt. Allerdings ist nicht genau bekannt, wie viele Nuklide es
tatsächlich gibt. Neben der Radioaktivität gibt es aber fundamentale Grenzen der
Stabilität, an denen ein weiteres zusätzliches Proton bzw. Neutron nicht mehr
gebunden würde. Die Gesamtzahl der bisher größtenteils unerforschten Nuklide
wird auf ungefähr 4000 geschätzt. Sie mögen exotisch wirken, sind aber z.B. für
die Synthese schwererer Elemente jenseits von Eisen von Bedeutung.
Das Stabilitätstal der Nuklidkarte ist in der Gegend um Eisen am tiefsten,
d.h. nur bis hier kann im Zentrum von Sternen durch Kernfusion Energie gewonnen
werden. Elemente wie Gold oder Blei entstehen beim Verschmelzen von
Neutronensternen sowie in Sternexplosionen (Supernovae). Die dabei beteiligten
radioaktiven Zerfallspfade folgen wie Schachfiguren festen "Zugregeln" und es
ist entscheidend, welche Flächen auf dem Spielfeld der Nuklidkarte zur Verfügung
stehen.
Da die paarweise Korrelation von zwei Protonen oder Neutronen im Atomkern
einen wichtigen Beitrag liefert, wird als Maß für die Bindungsstärke auch die
Zwei-Neutronen-Separationsenergie betrachtet, d.h. die Energie, die aufgebracht
werden muss, um zwei Neutronen aus einem Kern zu entfernen. Mit zunehmender
Entfernung zum Stabilitätstal wird diese immer kleiner, bis beim Wert Null die
Grenze der Stabilität erreicht ist.
Diese extrem neutronenreichen Nuklide sind aber so instabil und zugleich
schwierig herzustellen, dass z.B. für Vorhersagen der Synthese schwerer Elemente
die Separationsenergien von den bekannten Messwerten mit Unterstützung von
theoretischen Modellen extrapoliert werden müssen. Hinzu kommt, dass die
Separationsenergie nicht gleichmäßig fällt, sondern bei bestimmten "magischen"
Nukleonenzahlen Sprünge aufweist. Entsprechend herausfordernd wird dann die
Extrapolation auf die Nulllinie.
Bei den neuen Messungen wurde die Genauigkeit gegenüber früheren Experimenten
um bis zu einem Faktor 300 verbessert. Auch mussten die Forscher Neuland
betreten, um diese Nuklide überhaupt zu erzeugen und ihre Masse innerhalb ihrer
kurzen Lebensdauer von teilweise nur wenigen Zehntelsekunden präzise zu
bestimmen. Über Einsteins berühmte Gleichung zur Äquivalenz von Masse und
Energie, E = mc², kann aus der Masse die Bindungsenergie und damit die
Zwei-Neutronen-Separationsenergie bestimmt werden.
Durch die neuen Messungen wurde der in früheren Daten nur angedeutete und
zudem unklare Trend eines deutlich geringeren Abfalls der Separationsenergie zu
höheren Neutronenzahlen bestätigt. Dieses Verhalten wird auch durch
phänomenologische Modelle, die eine Deformation des Atomkerns begünstigen sehr
gut wiedergegeben. Neue Vielteilchenrechnungen, die "ab initio" ohne
phänomenologische Näherungen auskommen und dabei nur an leichte Kerne angepasst
wurden, sagen die Messdaten bis ⁵⁹Cr ebenfalls sehr gut voraus, ergeben aber für
noch neutronenreichere Chrom-Isotope eine zu schwache Bindung.
Für die Weiterentwicklung dieser mikroskopischen Rechnungen ist das
Zusammenspiel mit den neuen Messdaten sehr wichtig: es gibt klare Hinweise, dass
die Deformation des Kerns hier noch besser berücksichtigt werden muss. Die neuen
Resultate sind ein wichtiger Schritt auf dem Weg in unbekanntes Terrain der
Nuklidkarte, dem weitere folgen werden. Einen wesentlichen Beitrag wird das neue
Internationale Beschleunigerzentrum FAIR in Darmstadt leisten, welches eine
Produktion von mehreren 100 neuen Isotopen verspricht. Erste
Präzisionsmassenmessungen an diesen Isotopen sind für 2025 vorgesehen.
Über ihre Untersuchung berichten die Forscher in der Fachzeitschrift
Physical Review Letters.
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