Von den Alpen zum Magdeburger Schwerehoch
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Leibniz-Instituts für Angewandte Geophysik astronews.com
2. November 2010
9,81 Meter pro Sekunde-Quadrat - diese Zahl kennt wohl noch jeder aus
dem Physikunterricht. Es handelt sich dabei um die
Erdschwerebeschleunigung, deren Wert allerdings nicht überall gleich
ist. Das Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik hat sie nun überall
in Deutschland genau gemessen und so eine neue Karte der sogenannten Bouguer-Anomalien
des Erdschwerefeldes erstellt. Sie wurde Mitte Oktober in Darmstadt
vorgestellt.
Ein
Kartenausschnitt aus der Schwerekarte der
Bundesrepublik Deutschland. Zu sehen ist die
Umgebung von Darmstadt.
Bild:
idw / LIAG |
Die Erdanziehung ist nicht überall gleich stark. Im Kartenbild werden
daher Strukturen sichtbar, die für Laien einen ungewohnten, für
Geowissenschaftler einen höchst spannenden Blick auf Deutschland
freigeben. Die neue Karte wird für die geowissenschaftliche
Grundlagenforschung benötigt, denn die dargestellten Schwere-Anomalien
haben ihren Ursprung im Gestein der Erdkruste, so dass sie in enger
Beziehung zu geologischen Strukturen stehen. Auch Energieversorger und
Erzsucher haben an dieser besonderen Übersichtskarte Interesse.
Nicht zuletzt spielt die Schwere für amtliche Höhensysteme eine wichtige
Rolle. Gesteine mit hoher Dichte, wie etwa Basalt, erhöhen die Schwere, Gesteine
mit geringer Dichte, wie Steinsalz, verringern die Schwere. Als ungleicher
Zwilling steht die neue Schwere-Karte jetzt eigenständig neben der im Frühjahr
bereits erschienenen Karte des Erdmagnetfeldes. Das Leibniz-Institut für
Angewandte Geophysik (LIAG) stellt der Geowissenschaft damit ein zweiteiliges
Kartenwerk zur Verfügung, das zur kombinierten Interpretation herausfordert und
Fachleuten neue Einsichten in den tiefen Untergrund ermöglicht.
Die Schwere wird mit einem Gravimeter gemessen, einem für die heutige Zeit
durchaus extravaganten Messgerät. Die Messung erfolgt nämlich mechanisch mit
einer ultraempfindlichen Spiralfeder aus Quarz oder einer speziellen
Metalllegierung, die über ein feinmechanisches Hebelsystem die Schwere auf acht
Nachkommastellen genau registriert. Vorsichtiger als mit Mutters Porzellankiste
hantieren die Messingenieure mit dem Sensibelchen, und obendrein muss es ständig
warm gehalten werden, damit es richtig funktioniert. Dennoch ist es weit gereist
in Deutschland und hat mindestens alle fünf, oft auch jeden Kilometer, eine
Messung gemacht, bis die Karte komplett war.
In erster Näherung stimmt der Wert 9,81 m/s², tatsächlich ist er aber
ortsabhängig. Er hängt von der Abweichung der Erdfigur von einer perfekten Kugel
ab, weiterhin von der durch Erdrotation verursachten Fliehkraft und schließlich
vom geologischen Aufbau der Erde. Global lässt sich eine Schwereabnahme vom Pol
(9,83 m/s²) zum Äquator (9,78 m/s²) beobachten. Ein Mensch verliert demnach 0,5
Prozent an Gewicht, wenn er sich nicht an einem der Erdpole, sondern am Äquator
wiegt.
Noch kleinere regionale Unregelmäßigkeiten werden durch die Massenverteilung
im Untergrund verursacht, also durch den geologischen Aufbau der Erde. Der
entscheidende Parameter ist hierbei die variierende Dichte der Gesteine. Dadurch
bedingte Variationen im Erdschwerefeld weist diese neue Bouguer-Karte aus. Um
diese Effekte sichtbar zu machen, wird von jedem Messwert ein theoretischer Wert
abgezogen, der sich für eine homogen aufgebaute Modell-Erde mit konstanter
Dichte ergeben würde. Die resultierende Differenz nennt man zu Ehren des
französischen Astronomen Pierre Bouguer in der Fachwelt "Bouguer-Anomalie".
Traditionell werden Bouguer-Anomalien in der Einheit "Milli-Gal" (1 mGal =
0,00001 m/s2) angegeben. Die Karte stellt also Veränderungen in der 5.
Nachkommastelle des bekannten Wertes 9,81 m/s2
dar. In Deutschland variiert die Schwere zwischen -140 mGal im Bereich der Alpen
und +40 mGal im Bereich des Magdeburger Schwerehochs. Letzteres ist die größte
in Mitteleuropa bekannte Anomalie. Weiter bildet die Karte sowohl lokale
Strukturen, wie die Salzstöcke Norddeutschlands, als auch regionale Einheiten,
wie etwa den Oberrheingraben, ab. Die geringe Schwere im Alpenvorland und in den
Alpen ist typisch für viele Hochgebirge der Welt. Man vermutet daher, dass
Hochgebirge eine "leichte Wurzel" haben.
Mit wissenschaftlicher Akribie und Ausdauer, wie sie für die Kompilation
großer Kartenwerke notwendig ist, aber auch mit einer guten Portion Mathematik
und Physik, ist es gelungen, viele einzelne Messkampagnen aus den letzten 80
Jahren zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Gemeinsam mit den Geophysikern des
LIAG in Hannover haben auch Wissenschaftler der Geophysik GGD mbH aus Leipzig
zum Entstehen der Karte entscheidend beigetragen. Die offizielle Bezeichnung der
Karte lautet: "Schwerekarte der Bundesrepublik Deutschland 1:1.000.000, Bouguer-Anomalien".
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