Immer mehr künstliche Objekte umkreisen die Erde. Neben
Satelliten sind die meisten anderen unerwünscht und stellen ein Betriebsrisiko
dar, denn sie erhöhen die Gefahr von Zusammenstößen. Um diese zu verhindern,
werden effiziente Algorithmen benötigt. An der TU Darmstadt und bei der ESA
wurden dafür nun zwei neue Ansätze entwickelt.
1957 wurde der erste Satellit in eine Erdumlaufbahn geschickt. Seitdem
folgten ihm viele weitere – bis heute insgesamt rund 16.000. Was in den
Weiten des Weltraums nach wenig klingt, hat erhebliche Auswirkungen. Mit
jedem gestarteten Satelliten nimmt die Zahl der Objekte im Umkreis der Erde
weiter zu, und zwar nicht nur durch die Satelliten selbst, sondern auch
durch vielfältige Trümmerteile, die sogenannten Raumfahrtrückstände: Teile
von Trägerraketen und ausgedienten Satelliten oder andere missionsbezogene
Gegenstände, wie Klemmen, Hülsen oder Bolzen, die in der Erdumlaufbahn
freigesetzt wurden.
All diese Objekte bewegen sich in den Umlaufbahnen mit sehr hoher
Geschwindigkeit, was in der Vergangenheit bereits vielfach zu Kollisionen
geführt hat. Es droht eine Kettenreaktion: Stoßen Objekte mit Satelliten
oder anderen Trümmerteilen zusammen, entstehen viele neue Trümmerteile.
Diese erhöhen wiederum die Wahrscheinlichkeit für weitere Kollisionen.
Selbst sehr kleine Teile können wegen ihrer hohen Geschwindigkeit an
Satelliten und Raumfahrzeugen erheblichen Schaden anrichten, was die
Sicherheit der Raumfahrt und generell die Nutzung des Weltraums zunehmend
erschwert. Mithilfe von Weltraumüberwachungssensoren werden inzwischen mehr
als 30.000 Objekte in der Erdumlaufbahn verfolgt. Etwa 8000 dieser Objekte
sind einsatzfähige Satelliten, von denen etwa 2400 allein im Jahr 2022
gestartet wurden. Mit neuen Methoden, die in den nächsten Jahren zum Einsatz
kommen werden, sollen bald mehr als eine Million Objekte nachverfolgt werden
können. Zusätzlich gehen Schätzungen von über 100 Millionen weiteren
Objekten auf Umlaufbahnen im erdnahen Weltall aus, die zu klein sind, um sie
derzeit orten zu können.
Wie lässt sich nun verhindern, dass Satelliten miteinander oder anderen
Objekten kollidieren? An diesem Problem arbeiteten die Forschenden der TU
Darmstadt und der ESA – und dafür benötigten sie zunächst einmal
(Positions-)Daten. "Satelliten und Weltraumschrott werden vom Boden aus mit
leistungsfähigen Radaren und optischen Teleskopen überwacht", sagt Reinhold
Bertrand, verantwortlich für Forschung und Entwicklung im Space-Safety-Programm
der europäischen Raumfahrtorganisation ESA und Kooperationsprofessor an der
TU Darmstadt. "Funktionsfähige Satelliten verfügen darüber hinaus auch meist
über bordgebundene Sensoren zur Positionsbestimmung und können daher noch
genauere Positionsdaten zur Erde liefern. Für jedes Objekt lässt sich so aus
den Beobachtungsdaten die aktuelle Umlaufbahn bestimmen."
Daraus wiederum können rechnerisch Prognosen für die Position ein bis
zwei Wochen in die Zukunft abgeleitet werden. Dabei wird geprüft, ob sich
irgendwann zwei Objekte zu nahekommen und deren Kollisionsrisiko bestimmt.
Dieses lässt sich umso genauer bestimmen, je näher der Zusammenstoß
bevorsteht. Befindet sich ein Satellit auf Kollisionskurs mit einem anderen
Satelliten oder Objekt, erfolgt eine Kollisionswarnung an den
Satelliten-Betreiber, der dann ein Ausweichmanöver einleiten kann. Die
Vorlaufzeit beträgt circa ein bis zwei Tage, manchmal auch nur einige
Stunden. Allerdings: Sind zwei Trümmerteile auf Kollisionskurs, lässt sich
ein Zusammentreffen im Moment noch nicht vermeiden.
Aufgrund der steigenden Anzahl von Objekten in der Erdumlaufbahn stoßen
die derzeitigen Algorithmen und Verfahren zur Erkennung von Zusammenstößen
an ihre Grenzen. Die Zahl der zu überwachenden Objekte ist bereits hoch und
steigt rasant, da sowohl die Zahl der Trümmerteile als auch die der
Satelliten stetig wächst. Zudem werden durch verbesserte Erkennungsmethoden
in Zukunft deutlich mehr Objekte als jetzt sichtbar werden, die dann alle in
die Berechnungen mit einfließen müssen. Hier kommt das Fachgebiet Parallele
Programmierung der TU Darmstadt ins Spiel, das Programme für komplexe
Rechenaufgaben entwickelt.
"Wir standen vor zwei Herausforderungen", sagt Professor Felix Wolf,
Leiter des Fachgebiets. "Zum einen wollten wir die Positionen der Objekte
für einen deutlich längeren Zeitraum simulieren, nicht nur ein bis zwei
Wochen wie bisher. Zum anderen wollten wir eine größere Anzahl von Objekten
berücksichtigen. Dies erforderte einen neuen und effizienten Algorithmus."
Im Moment werden die Berechnungen zu den Umlaufbahnen aller Objekte im
Weltraum paarweise durchgeführt ("all-on-all"), was zu einer quadratischen
Anzahl von Satellitenpaaren führt, deren Kollisionsrisiko dann nacheinander
ausgeschlossen werden muss. Diese Berechnungen dauern umso länger, je mehr
Objekte überprüft werden müssen und je schneller sich diese bewegen.
Um die quadratische Anzahl von Vergleichen und damit auch einen
quadratischen Arbeits- und Rechenaufwand zu vermeiden, nutzten die
Forschenden räumliche Datenstrukturen und Parallelisierungsmethoden, um
mögliche Zusammenstöße zu identifizieren ("gitterbasierte Variante"), das
heißt, das Kollisionsrisiko wird nun nicht mehr nacheinander von jedem Paar
von Objekten berechnet, sondern die Objekte werden in "Zellen", die jeweils
einen kleinen Teil des erdnahen Weltraums repräsentieren, eingeordnet. Dies
ermöglicht es, nur noch innerhalb der Zellen und deren direkten
Nachbarzellen die Objekte miteinander vergleichen zu müssen.
In einem zweiten Schritt untersuchten die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler eine hybride Methode, bei der die gitterbasierte Variante
mit der klassischen kombiniert wurde. Für die Simulation kamen Daten von
echten Satelliten zum Einsatz. Die notwendigen Berechnungen konnten die
Forschenden auf dem Lichtenberg-Rechner der TU Darmstadt ausführen, der
speziell für komplexe Berechnungen dieser Art vorgesehen ist. Dieser enthält
besondere Prozessoren und Grafikkarten (GPUs), die weit leistungsfähiger
sind als die handelsüblichen Gegenstücke für Endnutzer. Dies beschleunigt
den Algorithmus zwar nicht von der theoretischen Betrachtung her, die
tatsächliche Berechnung braucht aber trotzdem nur noch einen Bruchteil der
Zeit.
Die Forschenden konnten zeigen, dass sich die Vorhersage von drohenden
Kollisionen mit den neuen Ansätzen deutlich beschleunigen lässt. Zudem ist
es möglich, damit die Bewegung von mehr als einer Million Objekte in der
Erdumlaufbahn zu simulieren und zu überwachen. Begrenzender Faktor für die
Anzahl der zu untersuchenden Objekte ist der Speicherverbrauch bei den
Berechnungen. Dieser ließe sich jedoch durch den Einsatz von mehreren
Grafikprozessoren bis zu einem gewissen Grad kompensieren. "Unsere
Berechnungsmethoden ermöglichen es, alle Objekte im Weltraum, die in naher
Zukunft verfolgt werden können, auf mögliche Kollisionen zu untersuchen",
fasst Wolf die Ergebnisse zusammen. "Der neue Algorithmus wird bereits
exemplarisch im Rahmen einer ESA-Studie eingesetzt"“ ergänzt Bertrand. Die
beiden Professoren sind sich einig: "Die Sicherheit im Weltraum wird damit
erhöht."