Chemisch ungewöhnlich, aber nicht einzigartig
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astronomie astronews.com
26. Juni 2023
Was würden extragalaktische Astronominnen und Astronomen
herausfinden, wenn sie unsere Milchstraße aus großer Entfernung beobachten und
versuchen würden, die chemische Zusammensetzung unserer Heimatgalaxie zu
untersuchen? Die Frage hat sich nun ein irdische Forschungsteam gestellt. Das
Ergebnis: Die chemische Zusammensetzung der Milchstraße ist ungewöhnlich, aber
nicht einzigartig.
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Künstlerische Darstellung der Milchstraße, von außen
gesehen. Bild: Stefan
Payne-Wardenaar [Großansicht] |
Wir sehen ferne Galaxien von außen: Teleskopbeobachtungen zeigen uns die Form
einer Galaxie und ihr Spektrum. Wie würde also unsere eigene Galaxie aus dieser
Perspektive für "extragalaktische" Astronominnen und Astronomen aussehen, die
nicht von unserer eigenen, sondern von einer anderen Galaxie aus das Weltall
erforschen? Das ist eine schwierigere Frage, als es zunächst scheinen mag.
Schließlich hat die Astronomie hier auf der Erde recht raffinierte Methoden
entwickelt, um aus ihren Beobachtungen die Eigenschaften einer Galaxie zu
rekonstruieren, und extragalaktische Astronominnen und Astronomen dürften ihnen
darin nicht nachstehen.
Aber die Antwort ist durchaus auch für unsere irdische Forschung interessant.
"Seit die Astronomie vor hundert Jahren erkannt hat, dass die Milchstraße nicht
die einzige Galaxie im Universum ist, hat sie sich gefragt, ob unsere
Milchstraße etwas Besonderes ist oder nicht", so Jianhui Lian vom
Max-Planck-Institut für Astronomie und der Universität Yunnan. "Um diese Frage
beantworten zu können, müssen wir Möglichkeiten finden, unsere Heimatgalaxie mit
weit entfernten Galaxien zu vergleichen."
Die Frage mag alt sein; dass wir darauf für die Chemie unserer Heimatgalaxie
eine Antwort finden können, ist dagegen durchaus neu. Zum einen hat es in den
letzten zehn Jahren enorme Fortschritte bei der systematischen Erforschung
unserer Heimatgalaxie gegeben. Durchmusterungen wie APOGEE haben mithilfe der
Auswertung von Sternspektren Informationen über die chemische Zusammensetzung,
die physikalischen Eigenschaften und die 3D-Bewegungen von Millionen einzelner
Sterne in unserer Milchstraße geliefert.
Auch für weit entfernte Galaxien gibt es viel mehr und viel bessere Daten als
je zuvor. Bei der MaNGA-Durchmusterung beispielsweise wurden fast 10.000
Galaxien eingehend untersucht. Während frühere Durchmusterungen, die auf so
viele Galaxien abzielten, nur ein Gesamtspektrum pro Galaxie lieferten, zeichnet
MaNGA ein "spektrales Bild", das zeigt, wie z. B. die chemische Zusammensetzung
jeder Galaxie vom Zentrum zu den äußeren Regionen hin variiert. Nicht zuletzt
zeichnen moderne Simulationen der Galaxienentstehung und -entwicklung, wie die
TNG50-Simulation, die Geschichte von Tausenden von Galaxien in einem
Modelluniversum von der Zeit nach dem Urknall bis zur Gegenwart nach. All diese
Fortschritte waren nötig damit wir eine Antwort auf die Frage finden können, was
außergalaktische Astronominnen und Astronomen herausfänden, wenn sie ihre
Teleskope auf die Milchstraße richten und deren chemische Zusammensetzung
studieren würden.
Genau das hat eine neue Studie unter der Leitung von Lian und Maria Bergemann
vom Max-Planck-Institut für Astronomie getan. Konkret untersuchten Lian,
Bergemann und ihre Kollegen die chemische Zusammensetzung von Sternen. Die
Sterne, die wir um uns herum sehen, bestehen größtenteils aus Wasserstoff und
Helium. Sie enthalten aber auch ein paar Elemente, die schwerer sind als Helium
– solche Elemente werden in der Astronomie "Metalle" genannt. Einige dieser
Metalle entstehen im Inneren von Sternen und werden in den Weltraum
geschleudert, wenn massereiche Sterne am Ende ihres Lebens explodieren. Andere
entstehen in den äußeren Schichten aufgeblähter Riesensterne und werden von dort
aus ins All geschleudert.
Dabei gibt es einen allgemeinen Trend: Die Konzentration von Metallen im
interstellaren Medium – in dem dünnen Gemisch aus Gas und Staub, das den Raum
zwischen den Sternen ausfüllt – nimmt mit der Zeit zu. Sterne, die früher
geboren wurden, enthalten weniger Metalle, später geborene Sterne enthalten
mehr. Findet man heraus, in welchen Regionen einer Galaxie es Sterne mit weniger
oder mehr Metallen gibt, dann kann man auf diese Weise rekonstruieren, in
welcher Region die Sterne früher und in welcher Region sie später entstanden
sind.
Unsere Heimatgalaxie, die Milchstraße, ist derzeit die einzige Spiralgalaxie,
in der wir direkt eine groß angelegte Durchmusterung vieler einzelner Sterne
durchführen können. Wir können die Positionen von Sternen innerhalb unserer
Galaxie messen und über ihre Spektren ihren Metallgehalt, ihre
Oberflächentemperatur und andere physikalische Eigenschaften feststellen. Lian,
Bergemann und ihre Kollegen machten sich daran, zu rekonstruieren, was
extragalaktische Astronominnen und Astronomen sehen würden, wenn sie das
Vorkommen von Metallen in der Milchstraße kartieren würden.
Da unsere Heimatgalaxie eine Scheibengalaxie ist, lautet die Schlüsselfrage:
Wie würde sich aus der Ferne die Häufigkeit von Metallen in Abhängigkeit von der
Entfernung einer Region vom Zentrum unserer Galaxie rekonstruieren? Das
herauszufinden erfordert einiges an Arbeit. Die Daten aus der
APOGEE-Durchmusterung waren nur der Ausgangspunkt. Als Nächstes mussten die
Forscherinnen und Forscher die Tatsache berücksichtigen, dass wir von der Erde
aus keinen freien Blick auf die Milchstraße haben: In einigen Richtungen
befindet sich mehr Staub zwischen uns und weiter entfernten Sternen, der das
Licht der Sterne abschwächt und einige der schwächsten Sterne ganz verdeckt. In
anderen Richtungen wird es weniger Staub geben. Die Forscherinnen und Forscher
mussten die Beobachtungsdaten sowie das, was wir über Staub und die
Eigenschaften von Sternen wissen, kombinieren, um die tatsächliche Verteilung
der Sterne in unserer Galaxie zu rekonstruieren.
Die Ergebnisse lieferten eine Überraschung: Verfolgt man den
durchschnittlichen Metallgehalt der Sterne vom Zentrum der Galaxie aus nach
außen, so steigt er an und erreicht in einer Entfernung von etwa 23.000
Lichtjahren vom Zentrum einen Metallgehalt, der dem unserer Sonne nahe kommt -
zum Vergleich: Unsere Sonne ist rund 26 000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum
entfernt. In noch größerer Entfernung sinkt der durchschnittliche Metallgehalt
dann allerdings wieder ab und beträgt in etwa 50.000 Lichtjahre Entfernung vom
Zentrum nur noch ein Drittel des Sonnenwerts.
Um zu verstehen, was dort vor sich ging, untersuchten die Forscher Sterne
verschiedener Altersgruppen – die APOGEE-Spektren ermöglichen immerhin eine
grobe Schätzung des Sternalters. Bei der getrennten Betrachtung jüngerer und
älterer Sterne stellten sie fest, dass jede Altersgruppe für sich einem
ungebrochenen Trend folgt, mit einem höheren Metallgehalt näher am Zentrum und
einem niedrigeren weiter außen. Der Anstieg und das Maximum der Gesamtverteilung
waren ausschließlich darauf zurückzuführen, dass ältere Sterne (mit viel
geringerem Metallgehalt) in der Nähe des galaktischen Zentrums häufiger vorkamen
und somit den Gesamtdurchschnitt nach unten zogen, während jüngere Sterne weiter
draußen häufiger wurden.
Lian, Bergemann und ihre Kollegen verglichen dieses interessante Ergebnis mit
den Eigenschaften anderer Galaxien. Einerseits betrachteten sie dazu 321
Galaxien in der MaNGA-Durchmusterung, die alle eine ähnliche Masse wie die
Milchstraße haben, ähnliche Mengen an Sternen produzieren und die wir alle
einigermaßen in Draufsicht sehen, so dass die Änderung der durchschnittlichen
Metallizität gemessen werden kann. Andererseits wandten die Forscherinnen und
Forscher die gleichen Kriterien an, um 134 milchstraßenähnliche Galaxien im
Modelluniversum der TNG50-Simulation zu identifizieren.
Wie besonders ist also unsere Heimatgalaxie – oder eben nicht? Die Antwort in
Bezug auf die chemische Zusammensetzung: Was die Verteilung der
Metallhäufigkeiten angeht, ist unsere Milchstraße zwar ungewöhnlich, aber nicht
einzigartig. Nur elf Prozent der Galaxien in der TNG50-Stichprobe und etwa ein
Prozent der Galaxien in der MaNGA-Stichprobe zeigten ein ähnliches Auf und Ab
der durchschnittlichen Metallizität. Die Diskrepanz zwischen elf und einem
Prozent dürfte auf eine Kombination aus Unsicherheiten in den MaNGA-Daten und
auf die Grenzen des Realismus des TNG50-Modelluniversums zurückzuführen zu sein.
Außerdem ist die Abnahme der durchschnittlichen Metallizität in den äußeren
Regionen mit zunehmender Entfernung vom Zentrum bei der Milchstraße im Vergleich
zu den MaNGA- und TNG50-Galaxien eher steil.
Warum also hat die Milchstraße diese vergleichsweise ungewöhnlichen
Eigenschaften, und was bedeuten diese Eigenschaften für die
Entstehungsgeschichte unserer Heimatgalaxie? Es gibt mehrere Möglichkeiten, die
vergleichsweise geringe Anzahl metallreicher Sterne in der Nähe des galaktischen
Zentrums zu erklären. Sie könnte mit der Entstehung des sogenannten Bulge
zusammenhängen, einer näherungsweise kugelförmigen Region älterer Sterne, die
das galaktische Zentrum in einer Entfernung von etwa 5000 Lichtjahren umgibt.
Die Bildung des Bulges dürfte den größten Teil des verfügbaren Wasserstoffgases
verbraucht haben, was die spätere Sternbildung in diesem Bereich erheblich
erschwert hätte. Alternativ könnte die Knappheit mit einer aktiven Phase
zusammenhängen, in der aus der unmittelbaren Nachbarschaft des zentralen
supermassereichen Schwarzen Lochs im Zentrum unserer Galaxie Teilchen und
Strahlung emittiert wurden, die die Sternentstehung hemmten.
Die Metallizität in den äußeren Regionen kann durch verschiedene Szenarien
erklärt werden, welche die Entwicklung des Gases in unserer Heimatgalaxie mit
der Geschichte der Sternentstehung in der galaktischen Scheibe kombinieren. Der
steile Rückgang könnte ein Zeichen für eine ungewöhnliche Episode in der
Geschichte unserer Galaxie sein – zum Beispiel könnte er darauf zurückgehen,
dass unsere Heimatgalaxie eine kleinere Galaxie mit Gas "verschluckte", die nur
sehr wenig an Metallen enthielt. Dieses Gas hätte dann später als Rohstoff für
die Bildung von Sternen mit weniger Metallen in der Scheibe gedient. Außerdem
ist möglich, dass unsere Schätzung für die Ausdehnung der stellaren Scheibe der
Milchstraße falsch ist und dass dieser Fehler den Vergleich mit anderen Galaxien
verzerrt, wenn es darum geht zu beurteilen, wie steil die Metallizität abnimmt.
"Die Ergebnisse sind sehr spannend! Das hier ist das erste Mal, dass wir die
chemische Zusammensetzung unserer Galaxis sinnvoll mit den Messungen an
zahlreichen anderen Galaxien vergleichen können", so Bergemann. "Die Ergebnisse
sind wichtig für die nächste Generation umfassender Studien zur
Galaxienentstehung. Solche Studien werden Daten aus zukünftigen, groß angelegten
Beobachtungsprogrammen nutzen, die auf die Milchstraße oder auf weit entfernte
Galaxien abzielen. Unsere Forschung zeigt, wie man diese beiden Arten von
Datensätzen sinnvoll kombinieren kann."
Die Studie wurde in der Zeitschrift Nature Astronomy veröffentlicht.
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