Künstlicher Winterschlaf könnte vor Strahlenschäden schützen
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung
GmbH astronews.com
18. November 2022
Noch ist es ein Blick in die Zukunft: Raumfahrende könnten
in einen künstlichen Winterschlaf versetzt werden und in diesem Zustand besser
vor kosmischer Strahlung geschützt sein. Entscheidende Anhaltspunkte dafür hat
ein internationales Forschungsteam nun bei Experimenten in Japan und Deutschland
gefunden.
Bei astronautischen Missionen zum Mars und
in noch entferntere Bereiche des Sonnensystems
ist die Crew einer deutlich erhöhten
Strahlenbelastung ausgesetzt.
Bild: NASA / Pat Rawlings, SAIC [Großansicht] |
Torpor nennen Forschende den Zustand, wie ihn auch Winterschlaf haltende
Tiere eingehen. In diesem Zustand werden lebenserhaltende Funktionen eines
Organismus zurückgefahren: Die Körpertemperatur wird abgesenkt, der Stoffwechsel
reduziert und Körperfunktionen wie Atem- und Herzfrequenz oder
Sauerstoffaufnahme werden deutlich verlangsamt. Auch auf molekularer Ebene
werden die Genaktivität und die Proteinbiosynthese auf ein langsameres Tempo
reduziert. In der jetzt veröffentlichten Studie zum Thema synthetischer Torpor,
also eine Art künstlich erzeugter Winterschlaf, und Schutz vor ionisierender
Strahlung haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler biologische Effekte
nachgewiesen, die darauf hindeuten, dass synthetischer Torpor die Resistenz
gegenüber Strahlung erhöht - ein Nachweis, der langfristig für Astronautinnen
und Astronauten sehr nützlich sein könnte.
Kosmische Strahlung gilt als eines der größten Gesundheitsrisiken für die
Erforschung des Weltraums durch den Menschen. Vor allem bei zukünftigen
Langzeitmissionen stellen schädliche Auswirkungen der Weltraumstrahlung eine
große Herausforderung dar. Der Großteil der Strahlungsdosis, die von den
Besatzungen astronautischer interplanetarer Missionen aufgenommen wird, wird
durch galaktische kosmische Strahlung erzeugt, hochenergetische geladene
Teilchen, einschließlich dicht ionisierender schwerer Ionen, die in fernen
Galaxien entstehen. Die Energie dieser Teilchen ist so hoch, dass die
Abschirmung des Raumfahrzeugs sie nicht aufhalten kann und zu einer
Strahlenbelastung führt, die über einen sehr langen Zeitraum mehr als 200 Mal
höher ist als die Hintergrundstrahlung auf der Erde. Deshalb wird für künftige
Missionen nach geeigneten Strahlungsschutzmaßnahmen geforscht.
"Die Zusammenhänge zwischen Torpor und Strahlenresistenz stellen einen hoch
innovativen Forschungsansatz dar. Unsere aktuellen Ergebnisse lassen darauf
schließen, dass synthetische Torpor ein vielversprechendes Instrument zur
Verbesserung des Strahlenschutzes im lebenden Organismus während einer
langfristigen Weltraummission ist. Er könnte somit eine effektive Strategie zum
Schutz des Menschen bei der Erforschung des Sonnensystems darstellen", fasst der
Leiter der GSI-Abteilung Biophysik, Professor Marco Durante, zusammen.
Zwar ist bereits bekannt, dass Tiere, die natürlichen Winterschlaf halten, in
diesem Zustand eine Strahlenresistenz erwerben. Doch die aktuelle Studie ist
deshalb so bedeutsam, weil nun zum ersten Mal bei nicht Winterschlaf haltenden
Tieren (Ratten) ein biologischer Zustand, der dem Winterschlaf ähnlich ist,
herbeigeführt wurde und eine Strahlenresistenz gegenüber hochenergetischen
Schwerionen nachgewiesen werden konnte. In Experimenten am japanischen Gunma
University Heavy-ion Medical Center wurden beschleunigte Kohlenstoff-Ionen
zur Simulation der Strahlung im Weltraum verwendet. Die anderen
In-Vitro-Zellexperimente wurden auf dem GSI/FAIR-Campus in Darmstadt
durchgeführt und waren Teil der Experimentierzeit FAIR-Phase 0.
Die beiden Hauptergebnisse des Forschungsteams nach Bestrahlung und
Induzierens eines synthetischen Torpors belegten die Annahmen: Synthetischer
Winterschlaf kann eine schützende Wirkung vor einer eigentlich tödlichen Dosis
an Kohlenstoff-Ionen haben. Synthetischer Winterschlaf reduziert außerdem die
Gewebeschäden bei einer Ganzkörperbestrahlung. Außerdem konnten die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von GSI bei ihren Untersuchungen an
Gewebezellen von Ratten den zugrundeliegenden Mechanismus näher charakterisieren
und zeigen, dass eine geringere Sauerstoffkonzentration in den Geweben (Hypoxie)
und ein reduzierter Stoffwechsel bei niedriger Temperatur (Hypothermie) zwei
wichtige Faktoren bei der Verhinderung von Zellschäden sein können.
Die immunhistologischen Analysen deuteten darauf hin, dass der synthetische
Torpor das Gewebe vor energetischer Ionenstrahlung schont. Zudem könnten sich
Veränderungen im Stoffwechsel bei niedrigen Temperaturen auch auf die
DNA-Reparatur auswirken. Noch ist viel Forschung nötig, um die
strahlenschützende Wirkung des synthetischen Torpors in Organen zu untersuchen
und besser zu verstehen. Und noch ist es technisch nicht möglich, Menschen auf
sichere und kontrollierte Weise in einen Winterschlaf zu versetzen.
Doch die Forschung schreitet voran. Erst vor Kurzem waren die neuronalen
Bahnen, die den Torpor steuern, enträtselt worden. Nun fügt die aktuelle
Veröffentlichung einen weiteren wichtigen Baustein hinzu. Der Wissenschaftliche
Geschäftsführer von GSI und FAIR, Professor Paolo Giubellino, unterstreicht,
dass das derzeit bei GSI entstehende internationale Beschleunigerzentrum FAIR
einzigartige Möglichkeiten für Forschung im Bereich der kosmischen Strahlung
bieten wird: "Bereits jetzt ist GSI in der Lage, Strahlen schwere Kerner zu
produzieren, wie sie in der kosmischen Strahlung vorkommen. An FAIR werden
Experimente mit einem viel größeren Spektrum an Teilchenenergien und
-intensitäten möglich sein. Dies wird es Forschenden ermöglichen, die
Auswirkungen der kosmischen Strahlung auf den Menschen und auf die technischen
Instrumente zu untersuchen, die für die Ermöglichung menschlicher Marsmissionen
von grundlegender Bedeutung sind. Ich freue mich sehr, dass die Europäische
Weltraumorganisation ESA seit vielen Jahren mit FAIR zusammenarbeitet, um diesen
Forschungsbereich voranzutreiben."
Ihre Ergebnisse haben die Forschungspartner aus Deutschland, Japan,
Italien, Großbritannien und den USA in Scientific Reports
veröffentlicht.
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