Keine Spur von sterilen Neutrinos
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Universität Bern astronews.com
28. Oktober 2021
Sogenannte sterile Neutrinos waren mehr als zwei Jahrzehnte
lang eine vielversprechende Erklärung für Anomalien, die bei Experimenten beobachtet wurden. Erste Ergebnisse der internationalen MicroBooNE-Kollaboration
lieferten nun aber keinen Hinweis darauf, dass sie tatsächlich existieren. Nun
kommen alternative Erklärungen ins Spiel.
Ein von MicroBooNE aufgezeichnetes
Elektron-Neutrino-Ereignis.
Bild: MicroBooNE Collaboration [Großansicht] |
Neben Photonen sind Neutrinos die am häufigsten vorkommenden
Elementarteilchen im Kosmos. Ihre Rolle etwa bei der Entwicklung des Universums
ist von großer Bedeutung in der Physik. Bisher sind drei Arten von Neutrinos
bekannt. Jedoch vermuteten Physikerinnen und Physiker eine bisher unentdeckte
vierte Art von Neutrinos – sogenannte sterile Neutrinos – als vielversprechende
Erklärung für bestimmte Anomalien in früheren Experimenten.
Neue Ergebnisse des sogenannten MicroBooNE-Experiments am
Teilchenphysik-Forschungszentrum Fermilab nahe Chicago versetzen den
theoretischen Elementarteilchen nun einen Schlag: vier komplementäre Studien der
internationalen MicroBooNE-Kollaboration, die gestern im Rahmen eines Seminars
vorgestellt wurden, zeigen keinen Hinweis für die tatsächliche Existenz der
sterilen Neutrinos. Stattdessen stimmen die Ergebnisse mit dem Standardmodell
der Teilchenphysik überein, der bisher besten physikalischen Theorie über die
Funktionsweise des Universums.
"Wir haben sehr umfassende Untersuchungen mehrerer Arten von
Neutrino-Wechselwirkungen durchgeführt. Alle sagen uns dasselbe: Es gibt keine
Hinweise für die Existenz von sterilen Neutrinos", sagt Michele Weber,
wissenschaftlicher Leiter des MicroBooNE-Experiments und Professor für
experimentelle Teilchenphysik der Universität Bern.
Neutrinos werden von verschiedenen Quellen produziert, einschließlich der
Sonne, der Atmosphäre, Kernreaktoren und Teilchenbeschleunigern. Da sie aber
selten mit anderer Materie interagieren, sind sie schwer nachzuweisen, und
werden deshalb auch als "Geisterteilchen" bezeichnet. Dennoch können sie mit
Teilchendetektoren indirekt sichtbar gemacht und untersucht werden. Neutrinos
gibt es in drei bekannten Arten: dem Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino. Sie
können zwischen diesen Arten auf besondere Weise hin- und herwechseln, was als
"Neutrino-Oszillation" bezeichnet wird.
In den 1990er-Jahren bei einem Experiment in den USA wurden zur Untersuchung
dieser Neutrino-Oszillation mehr Teilchenwechselwirkungen beobachtet als
theoretisch erwartet. Die Existenz einer vierten Neutrino-Art, den sterilen
Neutrinos, wurde eine beliebte Erklärung dieser seltsamen Ergebnisse. Dieses
hypothetische Teilchen wäre jedoch noch schwerer zu fassen als seine "Kollegen"
und würde nur auf die Schwerkraft reagieren. Mit der damaligen
Detektor-Technologie wäre es jedoch gar nicht möglich gewesen, ein solches
Neutrino nachzuweisen. Daher wurde 2007 die Idee zu MicroBooNE geboren.
Seit 2015 ist MicroBooNE in Betrieb. Der Teilchendetektor, der auf neusten
Technologien basiert, ist in einem zwölf Meter langen zylindrischen Behälter
untergebracht, der mit 170 Tonnen reinem flüssigen Argon befüllt ist. Dank des
Detektors können die fast 200 Mitarbeitenden der MicroBooNE-Kollaboration
spektakulär präzise 3D-Bilder von Neutrinoereignissen aufnehmen und so die
Wechselwirkungen im Detail studieren. "Diese Flüssig-Argon-Technologie haben wir
hier an der Universität Bern mitentwickelt und auch beim Bau von MicroBooNE hat
unsere Gruppe mitgearbeitet", erklärt Igor Kreslo, Professor am Labor für
Hochenergiephysik (LHEP) der Universität Bern. Zudem wurde am Laboratorium für
Hochenergiephysik und am Albert Einstein Center for Fundamental Physics (AEC)
der Universität Bern ein Kalibrations-System entwickelt und eine
Detektorkomponente für den Nachweis von kosmischen Strahlen gebaut, die zentral
sind für die Präzision der Ergebnisse von MicroBooNE.
Die ersten drei Jahre der Daten von MicroBooNE wurden nun ausgewertet – und
zeigen keine Spur von sterilen Neutrinos. Gemäß Weber ist dies ein spannender
Wendepunkt in der Neutrinoforschung: "Natürlich sind Entdeckungen spannender als
Nullresultate – aber diese sind umso wichtiger. Wir können nun die
wahrscheinlichste Erklärung für die Anomalien weitestgehend ausschließen und
andere – komplexere und vielleicht interessantere – Möglichkeiten untersuchen."
Die Hälfte der Daten von MicroBooNE ist noch auszuwerten und die
Möglichkeiten zur Erklärung der Anomalien sind vielfältig: "Dazu gehören so
faszinierende Dinge wie Licht, das durch neuartige Prozesse bei
Neutrinokollisionen erzeugt wird, oder so exotische wie die Dunkle Materie",
sagt Weber. Der MicroBooNE-Teilchendetektor ermöglicht es den Forschenden,
weitere Arten von Teilchenwechselwirkungen zu untersuchen.
MicroBooNE gehört zu einer ganzen Reihe von Neutrino-Experimenten, die nach
Antworten suchen. Die Grundlagen, die mit MicroBooNE geschaffen werden, sind für
die weiteren Experimente unerlässlich. Entscheidend ist beispielweise, dass sich
die Flüssig-Argon-Technologie bewährt hat, da sie auch im Deep Underground
Neutrino Experiment DUNE verwendet wird. DUNE ist ein internationales
Flaggschiff-Experiment am Fermilab, an dem bereits mehr als 1000 Forschende aus
über 30 Ländern beteiligt sind. DUNE wird Oszillationen untersuchen, indem
Neutrinos unter der Erde zu 1300 Kilometer entfernten Detektoren am Sanford
Lab in South Dakota geschickt werden.
|