Manchmal komplexer als auf der Erde
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Ruhr-Universität Bochum astronews.com
11. Juni 2019
Auf den ersten Blick erscheint es nicht sonderlich spannend,
wie sich Salzsäure bei sehr niedrigen Temperaturen verhält. Allerding verrät das
Verhalten der Säure einiges darüber, welche Chemie sich im sehr kalten
interstellaren Raum abspielen kann. Und dies lässt dann Rückschlüsse darauf zu,
ob und wie sich Vorläufer für Leben dort bilden konnten.
Im Weltraum, hier ein Aufnahme von NGC
6559, kann die Chemie manchmal offenbar komplexer
sein, als auf der Erde.
Bild: ESO [Großansicht] |
Wie Säuren bei extrem tiefen Temperaturen mit Wassermolekülen interagieren,
haben Bochumer Forscherinnen und Forscher vom Exzellenzcluster "Ruhr Explores
Solvation" (Resolv) gemeinsam mit Kooperationspartnern aus Nimwegen untersucht.
Mit spektroskopischen Analysen und Computersimulationen gingen sie der Frage
nach, ob Salzsäure (HCl) unter Bedingungen, wie sie im interstellaren Raum
herrschen, ihr Proton abgibt oder nicht. Die Antwort war weder Ja noch Nein,
sondern ist abhängig davon, in welcher Reihenfolge das Team Wasser- und
Salzsäuremoleküle zusammenbrachte.
Trifft Salzsäure unter normalen Bedingungen, zum Beispiel bei
Zimmertemperatur, auf Wassermoleküle, dissoziiert die Säure sofort: Sie gibt ihr
Proton (H+) ab, es bleibt ein Chloridion (Cl-) übrig. Ob der gleiche Prozess
auch bei extrem tiefen Temperaturen unter zehn Kelvin – also unter minus 263,15
Grad Celsius – stattfindet, wollte das Forschungsteam herausfinden. "Wir möchten
wissen, ob es unter den extremen Bedingungen im interstellaren Raum die gleiche
Säure-Base-Chemie gibt, die wir von der Erde kennen", erklärt Martina Havenith,
Sprecherin des Exzellenzclusters Resolv. "Die Ergebnisse sind entscheidend, um
verstehen zu können, wie sich komplexere chemische Moleküle im All gebildet
haben – noch lange bevor die ersten Vorläufer für Leben entstanden."
Um die extrem tiefen Temperaturen im Labor nachzustellen, ließen die Forscher
die chemischen Reaktionen in einem Tropfen aus superflüssigem Helium ablaufen.
Die Vorgänge verfolgten sie mit einer besonderen Form der
Infrarot-Spektroskopie, welche Molekülschwingungen mit niedrigen Frequenzen
detektieren kann. Dazu braucht es einen Laser mit besonders starker Leuchtkraft,
wie er in Nijmegen zur Verfügung steht. Computersimulationen erlaubten den
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die experimentellen Ergebnisse zu
interpretieren.
Zunächst gaben die Forscher zu dem Salzsäure-Molekül nacheinander vier
Wassermoleküle hinzu. In diesem Prozess dissoziierte die Salzsäure, sie gab ihr
Proton an ein Wassermolekül ab, es entstand ein Hydroniumion. Das
übriggebliebene Chloridion, das Hydrioniumion und die drei weiteren
Wassermoleküle bildeten ein Cluster.
Erzeugten die Forscher jedoch zunächst einen eis-ähnlichen Cluster aus den
vier Wassermolekülen und gaben dann die Salzsäure hinzu, erhielten sie ein
anderes Ergebnis: Das Salzsäure-Molekül dissoziierte nicht; das Proton blieb am
Chloridion gebunden. "Unter den Bedingungen, wie sie in interstellaren Wolken
herrschen, kann es also zur Dissoziation von Säuren kommen, es muss aber nicht
notwendigerweise passieren – die beiden Prozesse sind quasi zwei Seiten
derselben Medaille", fasst Havenith zusammen.
Die Forscher gehen davon aus, dass sich das Ergebnis auch auf andere Säuren
übertragen lässt, also das Grundprinzip der Chemie bei ultrakalten Bedingungen
darstellt. "Die Chemie im Weltall ist also keineswegs einfach, sie könnte sogar
komplexer sein als die Chemie unter planetaren Bedingungen", sagt Prof. Dr.
Dominik Marx vom Lehrstuhl für Theoretische Chemie der Ruhr-Universität Bochum .
Denn es komme nicht nur auf die Mischungsverhältnisse der reagierenden
Substanzen an, sondern auch auf die Reihenfolge, in der sie zueinander gegeben
werden. "Dieses Phänomen muss bei künftigen Experimenten und Simulationen unter
ultrakalten Bedingungen bedacht werden", so der Forscher.
Über ihre Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel der in der
Zeitschrift Science Advances erschienen ist.
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