Die Folgen eines stellaren Eindringlings
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie astronews.com
15. August 2018
Die äußeren Bereiche unseres Sonnensystems weisen
Eigenschaften auf, die sich mit der Standardtheorie zur Entstehung der Planeten
nicht so einfach erklären lassen. Mithilfe von Computersimulationen haben
Astronomen nun eine Hypothese getestet, die die Beobachtungen erklären könnte:
das Eindringen eines anderen Sterns ins Sonnensystem. Die Ergebnisse der Modelle
passen erstaunlich gut.
Künstlerische Darstellung einer Staubscheibe
um einen jungen Stern. So könnte einst auch die
Frühphase unseres Sonnensystems ausgesehen haben.
Bild: NASA/JPL-Caltech/R. Hurt (SSC/Caltech) [Großansicht] |
Unser Sonnensystem ist aus einer aus Gas und Staub zusammengesetzten
protoplanetaren Scheibe entstanden. Da die Gesamtmasse aller Objekte jenseits
der Neptunbahn wesentlich kleiner ist als erwartet und die dort entdeckten
Himmelskörper meist stark gegen die Ekliptik (die Bahnebene des Planetensystems)
geneigte exzentrische Umlaufbahnen aufweisen, ist anzunehmen, dass das äußere
Sonnensystem deutlich nach seiner Entstehung durch ein bestimmtes Ereignis
maßgeblich umgeformt wurde.
Susanne Pfalzner vom Bonner Max-Planck-Institut für Radioastronomie und ihre
Kollegen zeigen in einer aktuellen Untersuchung, dass der nahe Vorbeiflug eines
Nachbarsterns sowohl die geringere Massendichte im äußeren Sonnensystem als auch
die exzentrischen und stark geneigten Umlaufbahnen der dort gefundenen
Himmelskörper erklären kann. Die Ergebnisse ihrer numerischen Simulationen
lassen erwarten, dass noch eine große Zahl weiterer solcher "Transneptunobjekte"
(TNOs) bei hoher Bahnneigung zu entdecken sind, vielleicht unter Einschluss des
bereits mehrfach postulierten Planeten X.
Eine Beinahekatastrophe vor einigen Milliarden Jahren könnte den Außenbereich
unseres Sonnensystems signifikant umgeformt haben, während die inneren Regionen
davon nahezu unbeeinflusst blieben. Forscher vom Max-Planck-Institut für
Radioastronomie in Bonn und ihre Kollegen haben herausgefunden, dass ein naher
Vorbeiflug eines anderen Sterns viele im äußeren Bereich des Sonnensystems
gefundene Merkmale erklären kann. "Unsere Forschungsgruppe hat jahrelang
untersucht, wie solch nahe Vorbeigänge von Sternen sich bei anderen
Planetensystemen auswirken können und zunächst nicht daran gedacht, dass wir
auch selbst in einem solchen System leben könnten", sagt Pfalzner, die Leiterin
des Projekts. "Die Eleganz unseres Modells liegt in seiner Einfachheit."
Das grundlegende Modell für die Entstehung unseres Sonnensystems ist seit
langem bekannt. Unsere Sonne entstand aus einer kollabierenden Wolke aus Gas und
Staub. In diesem Prozess bildete sich eine abgeflachte Scheibe, in der nicht nur
Planeten, sondern sich auch kleinere Körper wie Asteroiden oder Zwergplaneten
formten. Aufgrund der flachen Scheibe würde man annehmen, dass sich alle
Planeten in einer Ebene bewegen würden, wenn nicht im Nachhinein noch etwas
Dramatisches stattfände.
Wenn man unser Sonnensystem bis hinaus zum Planeten Neptun betrachtet,
erscheint zunächst alles in Ordnung. Die meisten Planeten bewegen sich auf
nahezu kreisförmigen Bahnen, die sich in ihrer Bahnneigung nur wenig
unterscheiden. Jenseits von Neptun wird die Sache jedoch unübersichtlich. Das
größte Rätsel dabei stellt der Zwergplanet Sedna dar, der sich auf einer stark
geneigten und extrem exzentrischen Umlaufbahn bewegt. Sie führt ihn soweit nach
draußen, dass seine Bahnform nicht mehr durch den Einfluss der Planeten des
Sonnensystems erklärt werden kann.
Direkt außerhalb von Neptun ereignet sich noch etwas seltsames. Die
Gesamtmasse aller dort gefundenen Objekte verringert sich um nahezu drei
Größenordnungen. Das geschieht ungefähr bei der gleichen Entfernung von der
Sonne, bei der das ganze Erscheinungsbild unübersichtlich wird. Es mag eine
zufällige Übereinstimmung sein, aber solche Zufälle sind in der Natur eher
selten. Pfalzner und ihre Mitarbeiter schlagen nun vor, dass ein anderer Stern
in der Frühphase des Sonnensystems der Sonne sehr nahe gekommen ist und einen
Großteil des äußeren Materials der protoplanetaren Scheibe "geraubt" und das
übriggebliebene Material in stark geneigte und exzentrische Umlaufbahnen
überführt hat.
Mit Tausenden von Computersimulationen haben sie überprüft, wie sich der nahe
Vorbeigang eines Sterns auf die vormals größere protoplanetare Scheibe auswirkt.
Dabei konnten sie feststellen, dass die beste Übereinstimmung mit dem heutigen
Erscheinungsbild des äußeren Sonnensystems für einen Stern gleicher oder etwas
geringerer Masse (0,5 bis 1 Sonnenmasse) bei einem Vorbeiflug in etwa dreifachem
Neptunabstand gefunden werden kann. Die größte Überraschung für die Forscher war
jedoch, das ein solcher Vorbeigang nicht nur die seltsamen Bahnen der
Himmelskörper jenseits von Neptun erklärt, sondern darüber hinaus auch noch eine
natürliche Erklärung für weitere Merkmale in unserem Sonnensystem liefert, wie
das Massenverhältnis von Neptun und Uranus oder die Existenz von zwei getrennten
Populationen von Himmelskörpern im sogenannten Kuipergürtel.
"Es ist wichtig, dass wir alle möglichen Richtungen zur Erklärung der
Struktur des äußeren Sonnensystems im Auge behalten. Die Datenmenge wird größer,
aber es ist nach wie vor ein großer Spielraum für unterschiedliche Theorien",
sagt Pedro Lacerda von der Queen’s University in Belfast, der an der
Untersuchung beteiligt war. "Es besteht eine gewisse Gefahr, dass sich eine
Theorie nicht deswegen als wahr herauskristallisiert, weil sie die Daten besser
erklären kann, sondern aufgrund anderer Umstände. Unsere Ergebnisse zeigen, dass
eine ganze Menge von dem, was wir zur Zeit wissen, nur mit einer so einfachen
Annahme wie einem stellaren Vorbeiflug erklärt werden kann."
Die große Frage bleibt, wie wahrscheinlich ein solches Ereignis überhaupt
ist. Heutzutage sind stellare Vorbeiflüge sogar in hundertfach größerem Abstand
extrem selten. Jedoch wurden Sterne wie die Sonne üblicherweise in großen
Gruppen von Sternen geboren, in denen sie wesentlich dichter gepackt waren.
Daher dürften sich dichte Vorbeiflüge in der Frühphase des Sonnensystems
wesentlich häufiger ereignet haben. Mit weiteren Modellrechnungen konnte das
Team eine 20% bis 30% Wahrscheinlichkeit für einen nahen Vorbeiflug während der
ersten Milliarden Jahre im Leben der Sonne belegen.
Das ist natürlich kein endgültiger Beweis dafür, das ein stellarer Vorbeiflug
für die beobachteten Eigenschaften der Himmelskörper im äußeren Sonnensystem
verantwortlich ist, aber damit können etliche Beobachtungsdaten erklärt werden
und es erscheint einigermaßen realistisch. Der Vorbeiflug stellt bislang die
einfachste mögliche Erklärung und damit das beste Modell für die beobachteten
Phänomene dar. "Zusammengefasst können wir sagen, dass unser Vorbeiflug-Szenario
eine realistische Alternative zu gängigen Modellen für die Erklärung der
unerwarteten Eigenschaften des äußeren Sonnensystems darstellt", so Pfalzner.
"Es sollte als Möglichkeit berücksichtigt werden, um dessen derzeitige Form
darzustellen. Die Stärke dieses Szenarios liegt darin, das eine ganze Reihe von
Eigenschaften des äußeren Sonnensystems mit nur einem einzigen Mechanismus
erklärt werden kann."
Über ihre Untersuchungen berichten die Wissenschaftler in einem Fachartikel,
der in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift The Astrophysical Journal
veröffentlicht wurde.
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