NEPTUN
Die
unerzählte Geschichte der Neptun-Entdeckung
von
Hans Zekl
für
astronews.com
23. Mai 2003
Die Entdeckung des Planeten Neptun am 23. September 1846 durch die Berliner
Astronomen Johann Gottfried Galle und Heinrich Louis d'Arrest geschah nicht
zufällig. Vielmehr ist sie das Ergebnis der brillanten Anwendung der
theoretischen Himmelsmechanik. Dennoch entbrannte ein heftiger Streit zwischen
England und Frankreich darüber, wer den wissenschaftlichen Ruhm
beanspruchen durfte. Der Fund der alten englischen Originalunterlagen erlaubt es
nun, die alte Streitfrage endgültig zu klären.
Urbain Jean Joseph Le Verrier
John Couch Adams
George Biddell Airy
Bilder: University of St. Andrews |
Schon Jahre vor der Entdeckung des Neptun fiel den Astronomen auf, dass der Planet Uranus, der am 13.
März 1781 von William und Caroline Herschel in England entdeckt wurde, ständig
von seiner Bahn abwich.
Das brachte den französischen Astronomen Urbain Jean Joseph Le Verrier (1811–1877) auf die Idee, dass es möglicherweise weiter außen einen weiteren,
unbekannten Planeten geben könnte, der die Bahn des Uranus stört.
Ab Juni 1845 unternahm
Le Verrier die mühsame Aufgabe, mit Papier und Bleistift aus den Bahnstörungen
die Position des vermutlichen Planeten zu bestimmen. Am 31. August 1846 schloss
er die Arbeit ab und schickte die berechneten Koordinaten am 18. September 1846
nach Berlin, wo sie am 23. eintrafen. Innerhalb einer halben Stunde wurde Neptun
tatsächlich nahe der vorher gesagten Position gefunden.
Aber schon vor Le Verrier befasste sich der der junge englische Mathematiker
John Couch Adams aus Cambridge, England, mit demselben Problem. Schon am 3. Juli
1841 vermerkte er in seinem Tagebuch, dass er versuchen wolle, aus den
Abweichungen die Bahn eines unbekannten Planeten zu bestimmen. Im Februar 1844
erhielt er vom damaligen englischen "Königlichen Astronomen" George Biddell Airy
die notwendigen Uranus-Daten. Tatsächlich bestimmte er im September 1845 die
Neptun-Position mit einer Abweichung von weniger als einem halben Grad zu Le Verriers Ergebnis.
Zwei Versuche Adams im September und Oktober 1845 Airy zu
treffen und ihm seine Ergebnisse mitzuteilen scheiterten. Als Airy im November
sich schriftlich an Adams wandte, war dieser wegen der gescheiterten
Zusammenkünfte dermaßen beleidigt, dass er den Brief nicht beantwortete. Airy
erfuhr von Le Verriers Arbeiten im Juni 1846, worauf er sich mit ihm in
Verbindung setzte. Aber er erzählte weder Adams noch Le Verrier davon, dass der
jeweils andere an demselben Problem arbeitete. Adams und Le Verrier selbst
wussten nichts von der Arbeit des anderen.
Adams erste Berechnungen beruhten auf der willkürlichen Annahme, dass der noch
unbekannte Planet doppelt soweit von der Sonne entfernt sei wie Uranus. Er
selbst war über diese doch willkürliche Annahme nicht sehr glücklich und
übermittelte deshalb am 2. September 1846 neue Berechnungen an Airy, bei denen
er verschiedene Abstände untersuchte.
Tatsächlich kam es nach der Entdeckung des Planeten zu einer heftigen
Auseinandersetzung darüber, wer den entscheidenden Beitrag zur Entdeckung
geleistet hatte. Historiker standen seit dem aber vor dem Problem, dass viele
Originalpapiere in England im Royal Greenwich Observatory seit Airys Zeit unter
Verschluss standen. 1969 gingen sie schließlich auf mysteriöse Weise verloren,
als sie angeblich auf Mikrofilm gespeichert werden sollten. Aber immer wieder
tauchten Gerüchte auf, dass die Papiere im Besitz des ehemaligen Stellvertreters
des "königlichen Astronomen", dem Amerikaner Olin J. Eggen, wären, obwohl er
dies oft abstritt. Aber nach seinem Tod wurden die Papiere – über 500 Seiten –
1999 in seinem Nachlass in Chile gefunden.
Der englische Astronom Nick Kollerstrom von der University of London legte nun
einen ersten Bericht über den Inhalt dieser Unterlagen vor. Danach sind viele
Einzelheiten der ursprünglichen Geschichtsversion richtig. Tatsächlich versuchte
Adams erfolglos im Herbst 1845 Airy zu treffen. Andererseits waren Adams
Ergebnisse wohl ziemlich vage und ungenau. Auch lieferte er laufend neue Werte,
die deutlich von einander abwichen. Selbst während einer sechswöchigen Suche am
Observatorium der Universität Cambridge im Sommer 1845 war er nicht in der Lage
genaue Koordinaten zu liefern. Stattdessen erstreckten sich seine Voraussagen
über einen Bereich von 20 Grad am Himmel. Nach Neptuns Entdeckung
veröffentlichten die Britischen Astronomen unter der Leitung von Airy eine
manipulierte Version der Ereignisse in England. Adams schwankenden Resultate
wurden unterschlagen und nur die ersten Ergebnisse, die deutlich genauer waren
als die späteren, wurden veröffentlicht.
England beanspruchte damit den entscheidenden Beitrag zu Entdeckung. Ob dabei
verletzter Nationalstolz oder der Versuch, die gemachten Fehler zu verbergen,
dahinter steht, bleibt noch zu klären. Adams gebührt dennoch Achtung für seine
mathematischen Untersuchungen, aber wie Kollerstrom glaubt, wurde ihm damit mehr
zugeschrieben als ihm tatsächlich zustand.
Le Verrier legte zwar Protest ein, aber vergeblich. Da er nie die Möglichkeit
hatte, alle britischen Dokumente einzusehen, musste er letztlich ihre Version
akzeptieren, dass Adams die Position zuerst berechnet hatte.
Le Verrier erhielt
viele Ehrungen für seine Arbeit und wurde später Direktor des Pariser
Observatoriums. Aber Kollerstrom vermutet, dass er dadurch traumatisiert wurde
und er deshalb in seinen späteren Jahren zu einem Scheusal und Despoten wurde,
der nach einem Aufstand des Personals abgesetzt wurde. Allerdings erhielt er
diese Position wieder, nachdem sein Nachfolger ertrunken war. Nach über 150 Jahren kann nun eine der bekanntesten Geschichten der Astronomie
neu geschrieben werden. Bis heute bleibt aber dennoch die Frage, warum die
Originalunterlagen solange unter Verschluss gehalten und vor etwa 30 Jahren aus
dem Bestand des Greenwich-Observatoriums entfernt und offiziell als verloren
gemeldet wurden.
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