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Mithilfe von Daten des Astrometriesatelliten Gaia ist es gelungen, Sterne zu identifizieren, die Zeugen der frühesten Geschichte unserer Heimatgalaxie sind. Sie bilden das "arme alte Herz der Milchstraße", da sie über besonders wenig schwerere Elemente verfügen. Das Ergebnis passt gut zu den Vorhersagen kosmologischer Simulationen der frühesten Geschichte unserer Heimatgalaxie.
Die Geschichte unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße, erstreckt sich über rund 13 Milliarden Jahre – entsprechend fast der gesamten Geschichte unseres Universums. In den letzten Jahrzehnten ist es Astronominnen und Astronomen gelungen, verschiedene Epochen der galaktischen Geschichte zu rekonstruieren. Das Vorgehen dabei ähnelt der Art und Weise, wie die Archäologie die Geschichte einer Stadt rekonstruieren würden: Für einige Gebäude gibt es eindeutige Baudaten. Bei anderen deuten die Verwendung primitiverer Baumaterialien oder ältere Baustile darauf hin, dass sie früher entstanden sind. Auch der Umstand, dass Überreste von Gebäuden unter anderen (und damit neueren) Strukturen gefunden werden gibt wichtige Anhaltspunkte. Nicht zuletzt sind räumliche Muster wichtig: In vielen Städten gibt es eine zentrale Altstadt, die von deutlich neueren Stadtteilen umgeben ist. Bei Galaxien, und insbesondere bei unserer Heimatgalaxie, verläuft die kosmische Archäologie ganz ähnlich. Die Grundbausteine einer Galaxie sind ihre Sterne. Für eine kleine Untergruppe von Sternen lässt sich genau bestimmen, wie alt sie sind. Allgemeiner gibt es für fast alle Sterne einen "Baustil", der zumindest ungefähre Rückschlüsse auf das Alter erlaubt: die sogenannte Metallizität eines Sterns, definiert als die Menge an chemischen Elementen schwerer als Helium in der Atmosphäre des Sterns. Solche Elemente, die in der Sprechweise der Astronomie "Metalle" heißen, entstehen im Sterninneren durch Kernfusion und werden kurz vor oder am Ende des Lebens eines Sterns freigesetzt. Dadurch reichert sich das interstellare Gas mit schwereren Elementen an, und aus jenem Gas entsteht dann die nächste Generation von Sternen – jede Generation mit einer höheren Metallizität als die vorigen.
Was die großräumigen Strukturen anbelangt, so ist eine Galaxie natürlich weniger statisch als eine Stadt – Gebäude bewegen sich in der Regel nicht, Sterne hingegen schon. Aber gerade die Bewegungsmuster der Sterne enthalten aufschlussreiche Informationen. In der Milchstraße kann die Bewegung von Sternen zum Beispiel auf die zentralen Regionen beschränkt sein, oder sie kann Teil der geordneten Rotation der Sterne in der Scheibe unserer Heimatgalaxie sein. Alternativ können Sternbahnen Teil des chaotischen Wirrwarrs von Bahnen in dem ausgedehnten sogenannten Halo unserer Galaxie sein – einschließlich extrem langgestreckter Bahnen, die Sterne immer wieder von den innersten zu den äußersten Regionen führen und wieder zurück. So wie Städte einen Bauboom oder intensive Umbauphasen durchlaufen können, wird die Geschichte von Galaxien durch Verschmelzungen und Kollisionen geprägt sowie durch große Mengen an frischem Wasserstoffgas, das von außen in eine Galaxie einströmen kann – das Rohmaterial, aus dem sich neue Sterne bilden. Ganz am Anfang der Geschichte einer Galaxie stehen dabei kleineren Proto-Galaxien: Raumregionen mit einer höheren als der durchschnittlichen Massendichte, in denen bereits vergleichsweise kurz nach dem Urknall Gaswolken kollabieren und Sterne bilden. Stoßen solche Proto-Galaxien zusammen und verschmelzen miteinander, bildet sich eine größere Galaxie. Fügt man diesen etwas größeren Gebilden später noch eine weitere Proto-Galaxie hinzu, dann kann folgendes passieren: Fliegt jene weitere Proto-Galaxie nicht exakt auf das Zentrum ihres Kollisionspartners zu, sondern hinreichend weit seitlich versetzt, dann kann bei der Kollision rund um die ursprüngliche Galaxie eine Scheibe mit Sternen entstehen. Verschmelzen dagegen zwei bereits ausreichend große Galaxien, heizen sich ihre Gasreservoirs auf und bilden letztlich eine komplizierte elliptische Galaxie, mit einem komplexen Muster von Umlaufbahnen für die vorhandenen älteren Sterne aber so gut wie keiner neuen Sternentstehung. Dies alles lässt sich mit einer Kombination aus Beobachtungen und Simulationen rekonstruieren. Während die grobe Entwicklung bereits seit einigen Jahrzehnten bekannt sind, haben sich die Einzelheiten erst in jüngster Zeit herauskristallisiert – zum großen Teil dank einer Reihe von Durchmusterungen, die bessere und umfassendere Daten geliefert haben als zuvor verfügbar waren. Unsere Heimatgalaxie, die Milchstraße, spielt dabei eine herausgehobene Rolle. Sie ist die Galaxie, deren Sterne wir am besten und detailliertesten untersuchen können. Eine Untersuchung der Geschichte unserer Heimatgalaxie ermöglicht es uns nicht nur, einen Teil unserer eigenen Geschichte zu rekonstruieren. Sie liefert uns auch Erkenntnisse über die Entwicklung von Galaxien im Allgemeinen. Die jetzt vorgestellte Studie schließt an eine Untersuchung aus dem Frühjahr 2022 an (astronews.com berichtete). Damals hatten die MPIA-Forscher Maosheng Xiang und Hans-Walter Rix Daten des ESA-Satelliten Gaia und der Spektraldurchmusterung LAMOST genutzt, um das Alter von Sternen für eine beispiellos umfangreicher Stichprobe von 250.000 sogenannten Unterriesen zu bestimmen. Anhand dieser Analyse konnten die Astronomen die bewegte Jugend der Milchstraße vor elf Milliarden Jahren ebenso rekonstruieren wie ihr anschließendes eher ereignislos-ruhiges Erwachsenendasein. Was Xiang und Rix dabei allerdings auffiel war, dass die ältesten Sterne aus jener Jugendzeit bereits eine nicht allzu kleine Metallizität aufwiesen, nämlich rund zehn Prozent der heutigen Metallizität unserer Sonne. Offensichtlich musste es vor der Entstehung jener Sterne noch frühere Generationen von Sternen gegeben haben, die das interstellare Medium bei ihrem Ableben bereits mit schweren Elementen "verschmutzt" hatten. Die Existenz solcher früheren Sterngenerationen wiederum war keine Überraschung, denn genau solche früheren Generationen von Sternen zeigen auch aufwändige Simulationen der kosmischen Geschichte. Jene Simulationen sagen außerdem voraus, wo sich heute noch Vertreter jener früheren Sterngenerationen finden lassen sollten. Konkret liefern diese Simulationen für die Anfänge dessen, was später unsere Milchstraße wurde, Szenarien mit drei oder vier Proto-Galaxien, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander gebildet hatten, anschließend miteinander verschmolzen, und deren Sterne sich zu einem vergleichsweise kompakten Gebilde mit einem Durchmesser von nicht mehr als ein paar tausend Lichtjahren zusammenfanden. Dass später noch weitere Galaxien mit jener ursprünglichen Milchstraße verschmolzen, führte zur Entstehung weiterer Strukturen, insbesondere der Scheibenstruktur und des Halos. Aber die Simulationen legen nahe, dass ein Teil des ursprünglichen Kerns relativ unversehrt überlebte. Demnach sollte es möglich sein, Sterne aus dem anfänglichen kompakten Kern, dem "uralten Herzen der Milchstraße", auch heute noch in und nahe den Zentralregionen unserer Galaxie zu finden – Milliarden von Jahren später. An diesem Punkt begann sich Rix, konkrete Gedanken zu machen, wie sich tatsächlich Sterne aus dem alten Kern unserer Galaxie finden lassen würden. Er wusste aber, dass er, wenn er mehr als ein paar Dutzend solcher Sterne finden wollte, eine komplett neue Beobachtungsstrategie würde anwenden müssen. Hier kam nun die Astrometriemission Gaia der europäischen Weltraumorganisation ESA zu Hilfe, die im Juli gerade ihren dritten Datensatz DR3 veröffentlicht hatte. Seit 2014 hat Gaia für mehr als eine Milliarde Sterne hochpräzise Positions- und Bewegungsparameter gemessen, einschließlich der Sternentfernungen. Damit hat die Mission (neben anderen Teilbereichen der Astronomie) die galaktische Astronomie revolutioniert. DR3 war die erste Datenveröffentlichung, die zusätzlich die ersten der mit Gaia aufgenommenen Spektren enthielt – Spektren von 220 Millionen astronomischen Objekten. Spektren liefern Informationen über die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre eines Sterns, einschließlich seiner Metallizität. Doch obwohl die Spektren von Gaia von hoher Qualität sind und Spektren für eine konkurrenzlos hohe Anzahl von Sternen vorliegen, ist die spektrale Auflösung – wie fein das Licht eines Objekts nach Wellenlänge in die elementaren Regenbogenfarben aufgespalten wird – von vornherein vergleichsweise gering. Um aus den Gaia-Daten verlässliche Werte für die Metallizität zu gewinnen, waren daher zusätzliche Analysen erforderlich, und genau das nahm Hans-Walter Rix mit René Andrae, einem auf Gaia-Daten spezialisierten Forscher am MPIA, in einem Projekt in Angriff – gemeinsam mit dem Gaststudenten Vedant Chandra, der von der Harvard University ans MPIA gekommen war. Die drei Astronomen spezialisierten sich dabei auf rote Riesensterne in den Gaia-Daten – typische Rote Riesen sind etwa hundertmal heller als Unterriesen und damit auch auf die Entfernung des galaktischen Zentrums und seiner Nachbarschaft gut zu beobachten. Sie haben den zusätzlichen Vorteil, dass die spektralen Merkmale, anhand derer man die Metallizität bestimmen kann, bei Sternen dieses Typs vergleichsweise auffällig sind. Das machte sie für die Art von Analyse, die die Astronomen planten, besonders geeignet. Für die Analyse selbst griffen die Astronomen auf Methoden des maschinellen Lernens zurück. Dabei werden Lösungsstrategien nicht explizit programmiert. Stattdessen ist der Kern des Algorithmus ein sogenanntes neuronales Netz, das oberflächlich betrachtet Ähnlichkeiten mit der Anordnung von Neuronen im menschlichen Gehirn aufweist. Dieses neuronale Netz wird dann trainiert: Es erhält Kombinationen von Aufgaben und deren Lösungen, und die Verbindungen zwischen Eingabe und Ausgabe werden so angepasst, dass das Netz zumindest für die Trainingsbeispiele für eine Eingabe die richtige Ausgabe wiedergibt. In diesem speziellen Fall wurden dem neuronalen Netz zu Trainingszwecken ausgewählte Gaia-Spektren als Eingabe gegeben – Gaia-Spektren nämlich, bei denen die richtige Antwort, die Metallizität, bereits aus einer anderen, der APOGEE-Durchmusterung bekannt war. Die interne Struktur des Netzwerks wurde so angepasst, dass es zumindest für diese Trainingsbeispiele die korrekten Metallizitäten reproduzieren konnte. Eine allgemeine Herausforderung beim Einsatz des maschinellen Lernens in der Wissenschaft besteht darin, dass das neuronale Netz immer eine "Black Box" ist – seine interne Struktur ist durch den Trainingsprozess entstanden und unterliegt nicht der direkten Kontrolle der Forschenden. Aus diesem Grund trainierten Andrae, Chandra und Rix ihr neuronales Netz zunächst nur mit der Hälfte der APOGEE-Daten. In einem zweiten Schritt musste sich der Algorithmus dann an den restlichen APOGEE-Daten bewähren. Die Ergebnisse waren spektakulär: Auch für Sterne, an denen es nicht trainiert worden war, konnte das Netzwerk mit großer Genauigkeit Metallizitäten ermitteln. Nachdem die Forscher auf diese Weise sowohl ihr neuronales Netz trainiert als auch überprüft hatten, dass es für zuvor unbekannte Spektren zum richtigen Ergebnis kam, durfte das neuronale Netz den gesamten Gaia-Datensatz für die vorab ausgewählten helle Riesensterne verarbeiten. Das verschaffte den Forschern genaue Werte für die Metallizitäten von zwei Millionen hellen Riesen in den inneren Regionen unserer Heimatgalaxie – der bislang größte Datensatz dieser Art. Mithilfe dieser Daten war es dann direkt möglich, das uralte Herz der Milchstraßen zu identifizieren – eine Population von Sternen, die Rix aufgrund ihrer geringen Metallizität, ihres hohen Alters und ihrer zentralen Lage als "armes altes Herz" unserer Heimatgalaxie bezeichnet hat. Auf einer Himmelskarte erscheinen diese Sterne als um das galaktische Zentrum konzentriert. Die von Gaia (über die Parallaxenmethode) gelieferten Entfernungen ermöglichen zusätzlich eine 3D-Rekonstruktion, die zeigt, dass diese Sterne in der Tat vornehmlich in einer vergleichsweise kleinen inneren Region vorkommen, in Entfernungen von bis zu rund 15.000 Lichtjahren vom Zentrum. Diese Sternpopulation schreibt die frühere Studie von Xiang und Rix zu den Jugendjahren der Milchstraße direkt fort: Die Sterne im "armen alten Herz" haben genau die richtige Metallizität um die gesuchten Vorgänger der metallärmsten jener Sterne zu sein, die später die dicke Scheibe der Milchstraße bildeten. Daraus wiederum folgt eine Altersabschätzung: Das arme, alte Herz der Milchstraße muss älter sein als rund 12,5 Milliarden Jahre. Für diejenige, allerdings sehr kleine, Untermenge an Objekten, für die nicht nur Gaia-, sondern auch die hochaufgelösten APOGEE-Spektren verfügbar sind, kann man einen Schritt weitergehen: Aus den APOGEE-Spektren lassen sich zusätzliche Eigenschaften ableiten, insbesondere die Häufigkeit von Elementen wie Sauerstoff, Silizium und Neon. Das sind Elemente die entstehen, wenn zu Helium-4-Kernen (zwei Protonen, zwei Neutronen) wieder und wieder weitere Helium-4-Kerne hinzugefügt werden. Solche Elemente zeigen an, dass die betreffenden Sterne ihre Metalle aus einer Umgebung bezogen, wo schwerere Elemente innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit durch die Supernova-Explosionen massereicher Sterne erzeugt wurden. Dies wiederum spricht eher dafür, dass die Sterne im "armen alten Herz" direkt nach der Verschmelzung der ersten Proto-Galaxien zum ursprünglichen Kern der Milchstraße entstanden sind, als dass sie bereits in den Zwerggalaxien vorhanden waren, die den ursprünglichen Kern der Milchstraße bildeten oder in solchen, die später mit der Milchstraße verschmolzen. Das ist eine weitere eindrucksvolle Bestätigung dessen, was kosmologische Simulationen über die Frühgeschichte unserer Heimatgalaxie aussagen. Doch könnte man vielleicht sogar die Vorläufer-Galaxien der Milchstraße identifizieren? Geplante und gerade begonnene Durchmusterungen könnten hierzu wichtige Daten liefern und wenn es besonders gut läuft, sogar den Nachweis ermöglichen, welche Sterne in der Kernregion zu welchen der verschiedenen Vorläufergalaxien der Milchstraße gehören. Über ihre Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der im The Astrophysical Journal erschienen ist.
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