Das Geheimnis der blauen Hauptreihe
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astrophysik astronews.com
21. Februar 2022
Sterne, die in ihrem Inneren Wasserstoff zu Helium
fusionieren, sollten eigentlich eine genau definierte Gruppe bilden. Im
Sternhaufen NGC 1755 scheinen allerdings einige dieser Sterne jünger zu sein als
es die Theorie vorhersagt. Jetzt gibt es eine Erklärung dafür: Die vermeintlich
zu jungen Sterne könnten durch die Verschmelzung von Doppelsternen entstanden
sein.
Der Sternhaufen NGC 1755 in der Großen
Magellanschen Wolke in einer Aufnahme des
Weltraumteleskops Hubble.
Bild: ESA / Hubble & NASA, A. Milone, G.
Gilmore [Großansicht] |
Es zählt zu den berühmtesten Diagrammen der Astronomie: das
Hertzsprung-Russell-Diagramm. Es wurde vor mehr als einem Jahrhundert von den
beiden Astronomen Eijnar Hertzsprung und Henry Norris Russell unabhängig
voneinander erstellt und ordnet die Sterne nach ihrer Helligkeit und Farbe.
Viele der Dinge, die wir über Sterne und ihre Entwicklung wissen, stammen aus
Untersuchungen, wie und warum Sterne in diesem Diagramm in Gruppen angeordnet
sind. Unsere Sonne zum Beispiel befindet sich auf der sogenannten Hauptreihe, wo
die meisten Sterne angesiedelt sind.
Einige Sterne finden sich jedoch an seltsamen Positionen in diesem Diagramm.
Lange Zeit war es schwierig, die verschiedenen Gruppen klar zu unterscheiden, da
herkömmliche Teleskope nicht genau genug waren. Jüngste Beobachtungen mit dem
Hubble-Weltraumteleskop haben jedoch gezeigt, dass die Hauptreihen junger
offener Sternhaufen aus mehreren diskreten Komponenten bestehen. Insbesondere
die Daten für NGC 1755, einen offenen Sternhaufen in der Großen Magellanschen
Wolke mit einem Alter von etwa 60 Millionen Jahren, zeigten viele rätselhafte
Merkmale, wie etwa eine doppelte Hauptreihe.
"Wir glauben, dass die Sterne in den Sternhaufen alle zur gleichen Zeit aus
der gleichen Gaswolke entstanden sind", erklärt Chen Wang, Postdoktorandin am
Max-Planck-Institut für Astrophysik (MPA) in Garching bei München. "Sie sollten
gleich alt sein und die gleiche chemische Zusammensetzung haben. Aber wenn das
stimmt, wie kann es dann eine zweite Reihe von Sternen geben, die blauer sind?"
Diese merkwürdige Erscheinung ließ die Astronomen ratlos zurück; viele
ignorierten diese Erscheinung sogar, da eine Erklärung dafür nur schwer zu
finden war. Mit ihrer Erfahrung als theoretische Astrophysikerin kombinierte
Chen jedoch zwei Hinweise, um eine mögliche Herkunft dieser blauen
Hauptreihensterne vorzuschlagen.
Erstens stellte sie mit der Hilfe von Computersimulationen fest, dass man die
blauen Sterne erklären kann, wenn sie langsamer rotieren als die anderen Sterne
des Haufens. Zweitens zeigten neuere Modelle von Verschmelzungen zweier Sterne,
dass die daraus entstandenen Sterne stark magnetisch werden und sich sehr
langsam drehen. Chen kombinierte diese beiden Ideen und schlug vor, dass die
blauen Sterne in der Tat sehr langsam rotierende Sterne sind, die aus
Sternverschmelzungen stammen.
"Das Leben von Sternen in Doppelsternsystemen kann sehr kompliziert sein und
sich stark von dem der Einzelsterne unterscheiden", sagt sie. "Mit unseren
Computersimulationen können wir die Auswirkungen von Sternverschmelzungen auf
die Farben und die Leuchtkraft von Sternen untersuchen und ihre Merkmale im
Hertzsprung-Russell-Diagramm simulieren."
Bei der Verschmelzung eines Doppelsternsystems entsteht ein Stern, der
massereicher ist als jeder seiner beiden Vorgängersterne. Zudem ist dessen
Wasserstoffgehalt im Kern höher als der eines gleich alten Einzelsterns mit
derselben Masse. Die verschmolzenen Sterne können also das gleiche Alter wie
alle anderen Sterne des Haufens haben, erscheinen aber im
Farben-Helligkeits-Diagramm jünger, aufgrund ihrer blauen Farbe. Darüber hinaus
ist die Massenverteilung von blauen und roten Hauptreihensternen
unterschiedlich, was wiederum durch ihren Ursprung in einer Verschmelzung
erklärt werden kann.
"Die von Chen vorgeschlagene Verschmelzungshypothese ist als Erklärung für
die blauen Hauptreihensterne sehr reizvoll, da sie verschiedene rätselhafte
Befunde auf logische Art miteinander verbindet", führt Selma de Mink aus,
Direktorin und Leiterin der Abteilung "Stellare Astronomie" am MPA. "Dies würde
bedeuten, dass ein signifikanter Teil der Sterne mit einem Begleiter
verschmilzt, bevor ihr Leben überhaupt begonnen hat. Wenn Chen Recht hat – und
das könnte durchaus der Fall sein – dann könnte dies viele Fragen, wie Sterne
entstehen, warum sie manchmal schnell und manchmal langsam rotieren und warum
manche Magnetfelder haben, in einem neuen Licht erscheinen lassen."
Mehr als hundert Jahre, nachdem Hertzsprung und Russell ihr berühmtes
Diagramm erstellt haben, könnte also endlich eine Erklärung für das mysteriöse
Rätsel der blauen Hauptreihe gefunden worden sein. Aber wie bei jeder Hypothese
sind natürlich weitere Tests erforderlich.
Über ihre Ergebnisse berichten Chen und ihre Kolleginnen und Kollegen in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Nature Astronomy erschienen ist.
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