Winzige Plattentiere in Schwerelosigkeit
Redaktion
/ Pressemitteilung des DLR astronews.com
2. Februar 2022
Vier Experimente sind am vergangenen Wochenende an Bord der
Höhenforschungsrakete MAPHEUS-9 für einige Minuten in die Schwerelosigkeit
gestartet. Darunter waren auch winzige Plattentiere, an denen die Auswirkungen
der Schwerelosigkeit erforscht werden soll. Ein anderes Experiment beschäftigte
sich mit dem 3D-Druck im All.

Die Höhenforschungsrakete MAPHEUS-9 auf der
Startrampe des Raketenstartplatzes ESRANGE.
Foto: DLR / Alexander Kallenbach (CC BY-NC ND
3.0) [Großansicht] |
Normalerweise mögen es Plattentiere schon etwas wärmer. Für die Wissenschaft
hat es das einfachste mehrzellige Tier der Welt nach Nordschweden verschlagen –
und von dort aus für kurze Zeit in die Schwerelosigkeit. An Bord der
Höhenforschungsrakete MAPHEUS-9 des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt
(DLR) hoben die Meeresorganismen am 29. Januar 2022 erfolgreich vom
Raketenstartplatz ESRANGE (European Space and Sounding Rocket Range) ab. Auch
drei weitere Experimente aus dem Bereich der Physik, Werkstoffforschung und
Fertigungstechnologie konnten sich über sechs Minuten und zehn Sekunden an der
Schwerelosigkeit erfreuen.
Die 11,7 Meter lange Rakete mit einem Startgewicht von 1,7 Tonnen erreichte
in den knapp 15 Minuten zwischen Start und Landung eine maximale Höhe von 254
Kilometern. Die Nutzlast mit den wissenschaftlichen Experimenten flog nach dem
Abtrennen der Booster eine Höhenparabel. Sie landete gebremst durch einen
Fallschirm und wurde per Helikopter geborgen. Die Abteilung Mobile Raketenbasis
(MORABA) des DLR hat die Flugkampagne vorbereitet und durchgeführt. Außerdem
stellt sie Bergungssystem, Service-Modul, Kaltgaskontrollsystem, Trenn- und
Zündsysteme, Telemetrie-Station, Startrampe und die Raketenhardware bereit.
Trotz ihres einfachen Aufbaus können Plattentiere – Trichoplax adherens –
zwischen oben und unten unterscheiden, also Schwerkraft wahrnehmen. Rund 450
Exemplare dieser nur 0,5 Millimeter großen Meeresorganismen waren an Bord der
MAPHEUS-9-Mission. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interessierten
sich vor allem dafür, wie sich die Schwerelosigkeit auf die Plattentiere
auswirkt. "Wir schauen uns die genetischen Reaktionen der Organismen in
Schwerelosigkeit an. Besonderes Augenmerk richten wir auf die Gengruppen, die
für die Polarität, also den Aufbau unserer Zellen im Körper, verantwortlich
sind. Die Polarität geht bei der Entstehung von Krebs verloren", fasst
Gravitationsbiologe Dr. Jens Hauslage vom DLR-Institut für Luft- und
Raumfahrtmedizin zusammen.
Im Projekt GraviPlax (Gravitation/Trichoplax) arbeitet das DLR mit Teams der
Tierärztlichen Hochschule Hannover (TiHo) und der australischen La Trobe
Universität in Melbourne eng zusammen. Diese führen die molekularbiologischen
Analysen durch, um die Auswirkungen auf die Zellen genau nachzuvollziehen. Die
winzigen Organismen haben alle wichtigen Gengruppen, die notwendig sind, um
diese grundlegenden Mechanismen zu untersuchen und besser zu verstehen.
Ein weiteres Experiment an Bord befasste sich mit Granulaten, also körnigen
Feststoffen wie beispielsweise Pulver, Erdboden oder Kies. Im Experiment GRASCHA
(GRAnular Sound CHAracterization oder GRAnulat SCHAll) dienen kugelförmige
Teilchen aus Glas mit Durchmessern von drei bis vier Millimetern als Granulat.
Mit ihrer Hilfe will das wissenschaftliche Team bestehende und neue Theorien
testen, die den Verlust der mechanischen Stabilität von Granulat-Packungen
erklären. "Wir haben die Chance, grundsätzlich zu verstehen, wie Granulate ihre
Eigenschaften erhalten", erklärt DLR-Forscher Dr. Karsten Tell vom Institut für
Materialphysik im Weltraum. "Wichtig ist das unter anderem im Bereich der
Geophysik. Wenn man zum Beispiel verstehen will, warum der Erdboden manchmal
plötzlich anfängt zu rutschen. Er besteht aus lauter festen Teilchen. Geringe
Änderungen in deren Anordnung können dazu führen, dass sich der Erdboden nicht
mehr fest verhält, sondern eher wie eine Flüssigkeit."
Neben Erdrutschen ließen sich mit diesem Wissen auch Lawinen besser erklären.
Die Erkenntnisse können zudem für die chemische und pharmazeutische Industrie
interessant sein. Denn dort finden oft pulverförmigen Stoffe Verwendung, die man
verfahrenstechnisch möglichst gut verarbeiten, fördern und vermischen will.
Gleiches gilt für Sand und Zement in der Bauindustrie. Die Phase der
Schwerelosigkeit während des MAPHEUS-9-Flugs erlaubte es, die Teilchen des
Granulats so locker anzuordnen, dass sie gerade noch Kontakt miteinander hatten.
Auf der Erde lässt sich dieser Zustand aufgrund der Schwerkraft und des
hydrostatischen Drucks nicht herstellen. Bei der kleinsten Vibration verliert
die Granulat-Packung in der Schwerelosigkeit ihre Stabilität – in der
Fachsprache als Schermodul bezeichnet. Genau dieser Vorgang interessiert die
Forschenden am meisten. Um ihn zu untersuchen, messen sie die Geschwindigkeit
von Schall- und Scherwellen. Daraus geht hervor, wie schnell der Schermodul
absinkt, wenn der Packungsdruck verringert wird.
Zum dritten Mal machte sich außerdem das MARS-Experiment (Metallbasierte
Additive Fertigung für Raumfahrt- und Schwerelosigkeitsanwendungen) auf die
kurze Reise ins All. Im Fokus standen weitere Arbeiten, um 3D-Druck vor allem
mit pulverförmigen Substanzen unter Schwerelosigkeit zu erforschen. Ein erstes
Werkstück aus metallischem Massivglas hatte das DLR-Team vom Institut für
Materialphysik im Weltraum bereits bei den vorangegangenen Flügen hergestellt.
Nun galt es, den Prozess weiter zu optimieren: "Die Herausforderung besteht vor
allem darin, das Pulver in kurzer Zeit unter Schwerelosigkeit oder bei wenig
Gravitation gleichmäßig auf die Oberfläche aufzutragen", beschreibt
DLR-Forscherin Mélanie Clozel. "Mit jedem Flug unseres Experiments in die
Schwerelosigkeit haben wir die Möglichkeit, unsere Ansätze weiterzuentwickeln,
zu testen und so unser Know-how zu vergrößern."
Metallisches Massivglas zeichnet sich durch seine hohe Festigkeit und
Korrosionsbeständigkeit aus. Beides sind wichtige Eigenschaften für den Einsatz
im Weltraum. In Zukunft könnten mit 3D-Druck Komponenten auch direkt im All
gefertigt werden, zum Beispiel auf Raumstationen. Auf der Oberfläche von Mond
oder Mars könnte auch Regolith – pulverförmigem Gesteinsstaub – verwendet
werden, um beispielsweise Bauteile herzustellen.
Auch die Experiment-Plattform SOMEX (SOft Matter EXperiments) war bei der
Flugkampagne MAPHEUS-9 erneut mit dabei. Sie ermöglicht unterschiedliche
Versuche mit weicher Materie in der Schwerelosigkeit. Unter weicher Materie
versteht man eine Vielzahl von Materialien, die aus zwei Phasen bestehen. Sie
befinden sich zwischen den Aggregatzuständen fest und flüssig. Dazu zählen zum
Beispiel Gele und zähflüssige Flüssigkeiten wie Seife oder Farbe, Granulate,
Schäume und auch biologische Zellen.
Mit Lasermessverfahren sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
dieses Mal zwei physikalischen Phänomenen auf die Spur gegangen: Mithilfe von
künstlichen Mikroschwimmern wollen die Forschenden Bewegungseffekte besser
verstehen, wie man sie von lebenden Organismen kennt. Dazu zählt beispielsweise
die Schwarmbildung von Bakterien. Sie nutzten dazu winzig kleine Glaskügelchen,
die in einem Lösungsmittel schwammen. Diese waren mit einer Beschichtung
versehen, die Licht sehr stark absorbiert. Bestrahlt man die Glaskügelchen mit
einem Laser, nehmen sie das Licht beziehungsweise die Wärmeenergie auf und
bewegen sich.
Außerdem untersuchten sie – ergänzend zum Experiment GRASCHA – ebenfalls
Granulate: Im Mittelpunkt stand auch hier die Frage, wie sich die einzelnen
Partikel des Granulats bewegen. So lassen sich auf experimentellem Weg neue
Erkenntnisse über die Struktur und Dynamik solcher Systeme gewinnen und mit
theoretischen Modellen vergleichen.
Das MAPHEUS-Höhenforschungsprogramm (MAterialPHysikalische Experimente Unter
Schwerelosigkeit) des DLR-Instituts für Materialphysik im Weltraum wird bereits
seit 13 Jahren durchgeführt. Es ermöglicht Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlern innerhalb und außerhalb des DLR einen unabhängigen und
regelmäßigen Zugang zu Experimenten in Schwerelosigkeit. Aufgrund der
Corona-Pandemie mussten die geplanten Flüge umgestellt werden: Die Kampagne 11
fand im Mai 2021 statt, gefolgt von der Kampagne 10 im Dezember 2021.
Angetrieben wurde die Höhenforschungsrakete zum dritten Mal von einer
IM-IM-Konfiguration. IM steht für Improved Malemute und bezeichnet den zivil
genutzten Feststoffmotor der militärischen Boden-Luft-Rakete PATRIOT PAC-2.
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