Felsstürze auf dem Mond
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung astronews.com
9. Juni 2020
An steilen Abhängen können einzelne Gesteinsbrocken in
Bewegung geraten; teils schlitternd, teils rollend und hüpfend donnern sie ins
Tal. Das ist auf der Erde so – und vermutlich auch auf dem Mond. Im Rahmen einer
neuen Studie wurde jetzt ein Archiv mit mehr als zwei Millionen Aufnahmen der
Mondoberfläche ausgewertet und daraus eine erste globale Karte der Felsstürze
auf dem Erdtrabanten erstellt.
Beispiel eines etwa 13 Meter breiten lunaren
Felssturzes im Nicholson-Krater, der sich von
einem Felsvorsprung (rechts) gelöst hat, und fast
einen Kilometer den Hang hinuntergerollt ist
(links, siehe Gesamtansicht). Bei näherem Hinsehen lassen sich in der
direkten Umgebung noch zahlreiche weitere,
kleinere Felsstürze erkennen.
Bild: NASA / GSFC / ASU [Gesamtansicht] |
Im Oktober 2015 kam es in den Schweizer Alpen zu einem spektakulären
Felssturz: In den späten Morgenstunden löst sich plötzlich ein mehr als 1500
Kubikmeter großer, schneebedeckter Felsbrocken vom Gipfel des Mel de la Niva.
Auf seinem Weg in die Tiefe zerbricht er in mehrere Brocken, die ihren Weg ins
Tal fortsetzen; einer der großen Brocken kommt erst am Fuße des Gipfels neben
einer Berghütte zum Stillstand. Er hat eine etwa 1,4 Kilometer lange Schneise in
Wald und Wiese geschlagen.
Auch auf dem Mond stürzen immer wieder Felsen ins Tal und hinterlassen auf
ihrem Weg beeindruckende Spuren, wie seit den ersten unbemannten Flügen zu
unserem nächsten Nachbarn im All in den 1960er Jahren bekannt ist. Während der
späteren Apollo-Missionen untersuchten Astronauten solche Spuren vor
Ort und brachten Gesteinsproben zurück zur Erde. Eine Übersicht zu gewinnen, wie
verbreitet solche Felsbewegungen sind und wo sie auftreten, war bis vor wenigen
Jahren dennoch schwierig.
"Die allermeisten abgestürzten Felsbrocken auf dem Mond haben einen
Durchmesser zwischen sieben und zehn Metern", erklärt Valentin Bickel, der am
Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung (MPS) in Göttingen und an der ETH
Zürich promoviert. "Frühere Raumsonden, die den Mond untersucht haben, konnten
solch kleine Strukturen nicht überall sichtbar machen." Erst der Lunar
Reconnaissance Orbiter der NASA kartiert seit 2010 die gesamte
Mondoberfläche mit der nötigen räumlichen Auflösung und Abdeckung.
Ein Archiv mit mehr als zwei Millionen dieser Aufnahmen hat Bickel in den
vergangenen Monaten durchforstet. Natürlich nicht händisch. Stattdessen
entwickelte er einen Suchalgorithmus, der auf der Grundlage neuronaler Netzwerke
nach und nach lernt, die typischen Spuren abgehender Felsstürze in
Satellitenbildern zu erkennen. Entstanden ist so eine Karte der Mondoberfläche
zwischen 80 Grad nördlich und 80 Grad südlicher Breite, die 136.610 Felsstürze
mit Durchmessern von mehr als zweieinhalb Metern verzeichnet.
"Die Karte bietet uns erstmals die Möglichkeit, das Auftreten von Felsstürzen
auf einem anderen Himmelskörper und deren Ursachen zu untersuchen", so Dr. Urs
Mall vom MPS. Bisher hatten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angenommen,
dass vor allem Mondbeben Felsbrocken lösen und in Bewegung versetzen. Wie sich
jetzt zeigt, scheinen Einschläge von Asteroiden eine deutlich wichtigere Rolle
zu spielen. Sie sind anscheinend – direkt oder indirekt – für mehr als 80
Prozent aller Felsstürze verantwortlich.
"Ein Großteil der Felsstürze findet sich in der Nähe von Kraterwänden", so
Prof. Dr. Simon Löw von der ETH Zürich. Einige der Brocken lösen sich vermutlich
bald nach dem Einschlag, andere deutlich später. Die Forscher gehen davon aus,
dass nach einem Impakt an der Einschlagstelle ein Netzwerk aus Rissen im
Untergrund entsteht. Teile der Oberfläche können so selbst noch nach sehr langen
geologischen Zeiträumen mobil werden. Selbst in den ältesten Landschaften des
Mondes, also in den Gebieten der Prä-imbrischen Periode, die vor bis zu vier
Milliarden Jahren entstanden, finden sich an uralten Kratern Spuren von frischen
Felsstürzen. Da solche Abdrücke nach einigen Millionen Jahren verwittern
müssten, sind offenbar selbst diese alten Oberflächen noch immer im Wandel,
selbst Milliarden von Jahren nachdem sie entstanden sind.
"Asteroideneinschläge beeinflussen und verändern die Geologie einer Region
offenbar über sehr, sehr lange Zeiträume hinweg", so Bickel. Zudem legen die
Ergebnisse nahe, dass sich auch andere, sehr alte Oberflächen auf Körpern ohne
Atmosphäre wie etwa auf dem Merkur oder dem großen Asteroiden Vesta noch immer
verändern könnten.
Dort, wo die Felsstürze nicht in Zusammenhang mit Kratern stehen, deutet viel
auf einen seismischen oder vulkanischen Ursprung hin. So fanden die Forscher
etwa Gesteinsabgänge an vermutlich seismisch aktiven tektonischen Gräben und an
Vulkanschloten mit charakteristischen Rissen und Gängen. Die neue
Übersichtskarte kann so helfen, noch unbekannte, seismisch aktive Regionen zu
identifizieren. Für künftige robotische oder gar bemannte Missionen zum Mond
stellen solche Gebiete eine potentielle Herausforderung dar.
Die Studie erschien jetzt in Nature
Communications.
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