Ganz unterschiedliche unendliche Weiten
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Technischen Universität Wien astronews.com
13. August 2019
Jeder Weltraumfan - oder zumindest jeder StarTrek-Fan -
kennt sie: die unendlichen Weiten. Doch was genau ist eigentlich Unendlichkeit?
Mit dieser Frage befassen sich Mathematiker und damit wird die Sache fast
unendlich komplex: Manche Unendlichkeiten sind nämlich größer als andere. Es
gibt sogar ein Diagramm, das Struktur in die Menge der Unendlichkeiten bringen
soll.
Unendliche Weiten - für Mathematiker gibt es
jedoch ganz verschiedene Formen von
Unendlichkeit.
Bild: NASA, ESA, H. Teplitz und M. Rafelski
(IPAC/Caltech), A. Koekemoer (STScI), R.
Windhorst (Arizona State University) und Z. Levay
(STScI) [Großansicht] |
Wieviel ist zwei hoch unendlich? Ist es mehr als unendlich plus unendlich?
Tatsächlich gibt es verschiedene Arten von Unendlichkeit – manche
Unendlichkeiten sind sogar unendlich viel größer als andere. Zu untersuchen,
welche Arten von Unendlichkeit es geben kann und wie sie miteinander
zusammenhängen, ist eines der zentralen Forschungsgebiete von Logik und
Mengenlehre.
Ein bisschen Struktur in die Hierarchie der Unendlichkeiten bringt "Cichons
Diagramm": Es beinhaltet zehn unterschiedlich definierte Unendlichkeiten und
gibt an, in welcher Beziehung sie zueinander stehen. Bisher war aber unklar, wie
viele unterschiedliche Unendlichkeiten es in Cichons Diagramm geben kann. Nun
gelang den Mathematikern Prof. Martin Goldstern und Dr. Jakob Kellner von der TU
Wien gemeinsam mit ihrem Kollegen Saharon Shelah von der Universität Jerusalem
ein wichtiger Beweis: Alle Unendlichkeiten in diesem Diagramm können
unterschiedlich unendlich sein. Die Vielfalt dieser Unendlichkeiten ist maximal
groß.
Was ist größer – die Menge der natürlichen Zahlen oder die Menge der
positiven geraden Zahlen? Nur jede zweite natürliche Zahl ist eine ganze Zahl,
man könnte also glauben, dass die Menge der geraden Zahlen kleiner sein muss –
doch die Mengentheorie sieht das nicht so: Man kann die Elemente beider Mengen
eindeutig aufeinander abbilden. Die gerade Zahl Nummer eins ist die Zwei, die
gerade Zahl Nummer zwei ist die Vier, und so weiter. Jede Zahl bekommt ihren
eindeutigen Partner aus der anderen Menge, daher sind beide gleich groß. Wie ist
das aber mit der Menge der reellen Zahlen auf dem Zahlenstrahl mit unendlich
vielen Nachkommastellen? Es gibt keine Möglichkeit, sie durchzunummerieren. Die
Unendlichkeit aller Zahlen ist noch einmal größer als die Unendlichkeit der
ganzen Zahlen. Man sagt, es sind "überabzählbar unendlich" viele.
Die Frage ist nun: Gibt es irgendetwas dazwischen? Gibt es eine Menge, die
mehr Elemente hat als die Menge der natürlichen Zahlen, aber weniger als die
Menge der reellen Zahlen? Der große Mathematiker Georg Cantor glaubte das nicht
und formulierte 1878 die Kontinuumshypothese: Wenn eine Menge größer ist als die
der natürlichen Zahlen, dann muss sie zumindest gleich groß sein wie die Menge
der reellen Zahlen. (Darüber hinaus lassen sich freilich noch Unendlichkeiten
konstruieren, die noch viel größer sind.)
Viele Leute versuchten, die Kontinuumshypothese zu beweisen – allerdings
umsonst: In den 1960er Jahren wurde schließlich bewiesen, dass sich die
Hypothese nicht beweisen lässt. "Doch unabhängig davon, ob die
Kontinuumshypothese stimmt oder nicht, kann man etwas Struktur in die Hierarchie
der Unendlichkeiten bringen", sagt Kellner, der gemeinsam mit Goldstern am
Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie der TU Wien forscht.
Man kann eine ganze Reihe von Unendlichkeiten definieren und ihre Beziehungen
zueinander untersuchen. "Wenn man aus den möglichen Unendlichkeits-Definitionen
bestimmte Paare herausgreift und beweist, dass eine größer oder gleich der
anderen sein muss, entsteht eine Hierarchie der Unendlichkeiten", erklärt
Goldstern. Durch diese Beziehungen ergibt sich eine netzartige Struktur, die in
der Mathematik als "Cichons Diagramm" bekannt ist.
Insgesamt zehn unterschiedliche Definitionen unendlich großer Zahlen werden
in diesem Diagramm in Relation gesetzt. Doch bisher wurden immer nur einzelne
Verbindungen in diesem Netz untersucht, sich einen globalen Überblick über
Cichons Diagramm zu verschaffen, ist viel schwieriger. Und so war lange Zeit
unklar, wie viel Freiheit für unterschiedliche Unendlichkeiten das Diagramm
tatsächlich zulässt: Wie viele von ihnen dürfen verschieden sein? Gibt es in
diesem Diagramm vielleicht eine Menge von drei Einträgen, von denen zwei logisch
zwingend gleich sein müssen?
"Wenn man annimmt, dass die Kontinuumshypothese stimmt, dann ist die Sache
ganz einfach: Dann ist zwischen der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen und der
Unendlichkeit der reellen Zahlen keine weitere Sorte von Unendlichkeit möglich
und alle Einträge im Diagramm sind gleich", sagt Kellner. Wenn man die
Gültigkeit der Kontinuumshypothese allerdings nicht voraussetzt, sieht die Sache
völlig anders aus: Wie Goldstern, Kellner und Shelah zeigen konnten, sind
tatsächlich zehn verschiedene Einträge möglich. Cichons Diagramm erlaubt hier
die größte Vielfalt an Unendlichkeiten, die überhaupt denkbar ist.
Auch wenn dieses lang diskutierte Rätsel um Cichons Diagramm nun gelöst ist,
bleibt die Untersuchung und Charakterisierung von Unendlichkeiten weiterhin ein
wichtiges Forschungsgebiet der Mathematik – auch eineinhalb Jahrhunderte nach
Georg Cantor. Auch die Menge der mathematischen Rätsel rund um die Unendlichkeit
dürfte nämlich unendlich groß sein. Die Ergebnisse wurden jetzt in den
Annals of Mathematics publiziert.
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