Neues über das Strömungsverhalten im All
Redaktion
/ Pressemitteilung des DLR astronews.com
1. April 2011
Zur Halbzeit des Strömungsforschungsexperiments Capillary Channel
Flow (CCF) sind deutsche und amerikanische Wissenschaftler bei der
Datenauswertung auf Effekte gestoßen, die zuvor noch nie beobachtet
wurden. Die Versuchsreihe soll dazu beitragen, das Strömungsverhalten
von Flüssigkeiten unter dem Einfluss der Schwerelosigkeit besser zu
verstehen. Sie wird direkt von Bremen aus gesteuert.
Der NASA-Astronaut Scott Kelly installierte im
Dezember 2010 die CCF-Apparatur in der
Microgravity Science Glovebox (MSG) an Bord der
Internationalen Raumstation. Am 2. Januar 2011
startete dann die 75-tägige CCF-Versuchsreihe.
Die Experimentanlagen 1 und 2 wurden bereits am
5. April 2010 mit dem Space Shuttle Discovery auf
die ISS gebracht. Die Experimenteinheit 1 wird
nun nach der Halbzeit gegen die Experimenteinheit
2 ausgetauscht.
Foto: DLR / NASA |
Ob Raumsonde, Fernsehsatellit oder zukünftige bemannte Raummissionen: An
Bord von Weltraumfahrzeugen ist ein zuverlässiger Flüssigkeitstransport
von entscheidender Bedeutung. Das gilt sowohl für Treibstoffe als auch
für Wasser und verflüssigte Gase. Auf der Erde treten für gewöhnlich
keine Probleme auf: Benzin in einem Autotank schwappt dank der
Erdanziehung immer am Boden. Unter Schwerelosigkeit hingegen verteilt
sich der Treibstoff überall im Behälter. Wie ist es unter diesen
Umständen im All möglich, Flüssigkeiten blasenfrei zu transportieren?
Welche maximalen Strömungsgeschwindigkeiten können erreicht werden, ohne
dass der Flüssigkeitsstrom abreißt?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, haben die Forscher die CCF
(Capillary Channel Flow)-Apparatur mit zwei
unterschiedlichen Experimenteinheiten zur ISS geschickt. Die Apparatur
selbst besteht aus einer Pumpe, die aus einem Tank Modellflüssigkeiten
durch seitlich offene Leitungen - die sogenannten Kapillarkanäle -
saugt. In Experimenteinheit 1 bestehen diese Leitungen aus parallelen,
in Experimenteinheit 2 aus V-förmigen Glasplatten. Nach der Halbzeit
werden diese Einheiten ausgetauscht.
Bislang nahmen die Forscher an, dass der Abschnitt der Kapillarkanäle,
der in unmittelbarer Nähe der Pumpe liegt, entscheidend für das
Strömungsverhalten sei. An dieser Stelle bilden sich Einschnürungen im
Flüssigkeitsstrom, die bei einer Erhöhung der Pumpenleistung
Sauerstoffblasen einschließen, die dann mitgesogen werden. Sie lassen
den Strom im schlimmsten Fall abreißen. Die Forscher sprechen hier vom
kritischen Volumenstrom. Die neuesten Daten belegen aber, dass gerade in
langen Kapillarkanälen der Bereich, der weit von der Pumpe entfernt
liegt, überraschenderweise einen wesentlichen Einfluss auf die
Entstehung der Einschnürungen und damit auf diesen kritischen
Volumenstrom nimmt.
Mit diesen Erkenntnissen hoffen die Wissenschaftler Modelle für
maßgeschneiderte Treibstoffleitungen entwickeln zu können. Diese sollen
flüssigen Treibstoff im Tank bei einer orbitalen Zündung des
Raketentriebwerks optimal zur Auslassöffnung befördern und dem Triebwerk
blasenfrei zur Verfügung stellen. Die Stoffeigenschaften der
Modellflüssigkeit wie Zähigkeit, Dichte und Oberflächenspannung sind so
gewählt, dass sie in Kombination mit der Geometrie des Testkanals realen
Treibstofftransporten sehr ähnlich sind. Dadurch sind die Ergebnisse vom
Modell auf der ISS leicht auf eine Anwendung im Raumfahrzeugtank
übertragbar.
Dafür modellieren die Forscher anhand von Gleichungen der
Strömungsmechanik mathematisch, welche Kräfte wirksam sind und wie diese
zusammenspielen. Diese theoretischen Berechnungen können nur durch
Experimente unter Schwerelosigkeit bestätigt werden. Auf der ISS filmt
eine hochauflösende Kamera zunächst den Testkanal mit den freien
Oberflächen. Anschließend werden ihre aufbereiteten und komprimierten
Daten direkt zum CCF-Team am Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie
und Mikrogravitation (ZARM) der Universität Bremen gesendet und von den
Versuchsleitern genutzt, um jeweils den nächsten Versuchslauf gezielt
vorzubereiten.
Das Team kann die Steuerbefehle direkt zur ISS senden und den Verlauf
des Experiments beobachten. Daten von den Versuchsabläufen treffen
täglich auf den Monitoren der Wissenschaftler ein. Ein Versuchsablauf
wird bis zu 25 Sekunden lang aufgezeichnet. "Bislang haben wir mehr als
900 Datensätze gesammelt, die von telemetrischen Messungen und von
Aufzeichnungen einer Highspeed-Kamera stammen. Die Daten bestätigen,
dass die bisherige mathematische Modellrechnung für die
Flussgeschwindigkeit in Schwerelosigkeit aufrecht erhalten werden kann",
erklärt Projektleiter Prof. Michael Dreyer.
Rund um die Uhr und sieben Tage die Woche arbeiten Wissenschaftler vom
ZARM und der Portland State University an der Umsetzung des
Experiments. Das Projekt ist eine bilaterale Kooperation zwischen dem
DLR und der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA. Die US-amerikanische
Seite ist für den Transport der Apparatur zur ISS, deren dortigen
Betrieb und das Astronautentraining verantwortlich. Deutschland stellt
die Apparatur für den Bordeinsatz, die von der Firma EADS Astrium
in Friedrichshafen gebaut wurde, sowie ein Ingenieurs- und
Trainingsmodell zur Verfügung.
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